WM in der Schweiz 1954: „Friedrich, es regnet!“

WM in der Schweiz 1954: „Friedrich, es regnet!“

Wenn man einem Toten zum 100. Geburtstag gratuliert, muss es großartige Gründe geben. Wie bei Fritz Walter. Nur eines ist traurig: Erfolglos habe ich als Kind versucht, seinen 32-Schläge-Rekord auf der Minigolfanlage in Obertal im Schwarzwald zu brechen.

Jedes Jahr flattert mir pünktlich vor der Feriensaison ein bunter Prospekt des Hotels „Belvedere“ in den Briefkasten. Früher brachte ihn der Postbote. Heute kommt er als E-Mail.

Waren Sie einmal im „Belvedere“?

Das Hotel in Spiez am Thuner See gilt seit 1954 als Wallfahrtsort. Jeder anständige Deutsche sollte es mindestens einmal im Leben aufsuchen und vor dem Treppchen am Eingang niederknien, und als ich vor ein paar Jahren eine Nacht dort verbrachte, gab es im Fanshop immer noch das Hemd von Fritz Walter. „Vom Originaltrikot“, garantierte das Hotel, „wurde das Schnittmuster genommen.“

Ich war damals allerdings nicht den weiten Weg in die Schweiz gefahren, um das nachgemachte Hemd des alten Helden zu kaufen, vielmehr wollte ich den unverfälschten Hauch der Heldentat atmen, und zwar dort, wo sich der Kapitän Walter und der Rechtsaußen Rahn, kurz: der „Boss“, damals jeden Morgen vor den Spiegel gestellt und rasiert hatten. Als fragte ich das freundliche Fräulein an der Rezeption: „Kann ich Zimmer 303 haben?“

Sie war untröstlich, als sie mir die bittere Wahrheit eröffnete: „Wir haben umgebaut.“

Zimmer 303, das Basislager des Wunders, gab es nicht mehr. Umso mehr, und damit war mein Tag dann doch halbwegs gerettet, war aber in Umrissen der historische Speisesaal noch zu erkennen, in dem am 4. Juli 1954 die vermutlich wichtigsten drei Wörter des deutschen Fußballs gesprochen wurden – die DFB-Kicker saßen beim Mittagessen, als der Nürnberger Max Morlock plötzlich durchs Fenster starrte und wie elektrisiert aufschrie.

„Friedrich, es regnet!“

Friedrich, das war Fritz Walter. „Wir nagten bei Tisch gerade die Knochen unserer Hähnchen ab“, hat der Kapitän den Glücksmoment später beschrieben. Er mochte feuchtes Gras, auf schlüpfrigem Geläuf kam seine Ballfertigkeit perfekt zum Tragen. Auch Bundestrainer Sepp Herberger zwinkerte: „Fritz, Ihr Wetter.“

Es war ein Wetter, um Helden zu zeugen. Und wir Deutsche brauchten dringend neue Helden. Die alten waren tot.

Der Rest des Tages ist Geschichte, die Bilder vom Wunder sind unauslöschlich ist allen Überlebenden gespeichert. Boss Rahns 3:2. Die patschnassen Ungarn. Die feuchtfröhlichen deutschen Schlachtenbummler in ihren Regenmänteln. Die Stimme von Herbert Zimmermann, die sich zunehmend überschlug, als er durch sein Radiomikrofon in die Heimat schrie: „Aus! Aus! Das Spiel ist aus! Deutschland ist Weltmeister!“

Der 4. Juli 1954 gilt als die wahre Geburtsstunde der Bundesrepublik Deutschland. „Wir sind wieder wer!“, spürte ein einiges Volk. Die geschundene deutsche Seele traute sich über Nacht wieder zum aufrechten Gang zurück – und der deutsche Mann griff zu Lockenstab und Pomade, um so glänzend daherzukommen wie Fritz Walter.

Der war kein Gewöhnlicher. Wenn man einem Toten zum hundertsten Geburtstag gratuliert wie jetzt diesem Pfälzer, müssen schwerwiegende Gründe vorliegen.

Wo fangen wir an?

Am besten mit seinem Tor des Jahrhunderts. Am 6. Oktober 1956 spielte der 1. FC Kaiserlautern vor 110 000 Zuschauern in Leipzig gegen Wismut Karl-Marx-Stadt, gewann 5:3, und Fritz Walter gab dem DDR-Meister den goldenen Schuss. In seinem Buch „So habe ich’s gemacht …“ beschreibt er ihn so: „Der von rechts kommende Flankenball senkte sich hinter meinem Rücken. Da ließ ich mich nach vorne fallen, fast in den Handstand und schlug mit der Hacke zu. Aus zwölf, fünfzehn Metern Entfernung flog der Ball haarscharf ins obere Toreck. Dass es ein Tor wurde, war Glück. Dass ich in dieser Situation aber überhaupt an den Ball kam und ihn traf, das war kein Glück.“

Es war Können. Er war ein zärtlicher Ballstreichler, und alte Schriften schildern ihn als genialen Spielmacher und Strategen, der nebenher verteidigte und vollstreckte. In 61 Länderspielen schoss Fritz Walter 33 Tore. Aber so gut wie keines davon kam live und in voller Länge im Fernsehen, und schon gar nicht in Farbe, die Bilder lernten gerade erst laufen. Wie gut Fritz Walter war? Es ist wie bei Muhammad Ali, dessen Trainer Angelo Dundee gesagt hat: „Den besten Ali haben wir nie gesehen.“ Denn in seinen besten Jahren war Ali als Kriegsdienstverweigerer gesperrt.

Der junge Walter zog in den Krieg und hat an der Front seine beste Zeit verloren. 1940 hatte ihn der Reichstrainer Herberger erstmals nominiert, er war 19, heute würde man Wunderkind sagen, und gegen Rumänien schoss er auf Anhieb drei Tore. 1945 kehrte er dann aus der russischen Gefangenschaft heim, 1951 in die Nationalelf zurück, und er sagte: „Der Krieg hat mir die besten Jahre gestohlen.“ Er war jenseits der 30. Eigentlich war alles vorbei. Aber es fing erst an.

Das zweite Leben.

Walter spielte jetzt nicht mehr für Hitler, aber immer noch für Herberger. Die Zwei waren wie Vater und verlängerter Arm, der Filigrane setzte die Ideen des Trainers um, und umgekehrt war Herberger sein Trauzeuge, als er 1948 die gutaussehende Italia Bortoluzzi zum Altar führte. Besorgt tuschelten die Pfälzer angesichts der feurigen Italienerin: „De schwarz Hex mit de rote Fingernägel, hoffentlich macht se de Fritz net fertig.“ In Wahrheit hat sie ihn so richtig in Fahrt gebracht. Zweimal wurde Kaiserslautern Deutscher Meister, und Atlético Madrid und Inter Mailand lockten mit Geldsäcken. Erfolgslos. „Dehäm is dehäm“, soll der Fritz gesagt haben.

Dann kam die WM 1954.

Das Wunder wird immer mit dem „Geist von Spiez“ erklärt, aber es steckte auch der Geist von Schwarzwald dahinter. Ich weiß das, mein Opa Artur stammte aus Baiersbronn-Obertal, wir feierten dort immer unseren jährlichen Familientag, und im Gasthof „Blume“ am Eingang des Fleckens haben Herbergers Helden bis heute ihre Spuren hinterlassen, die alten Fotos vom Wirt mit dem Sepp und dem Fritz halten die glorreiche Vergangenheit wach. Vor der WM in der Schweiz tankten die angehenden Weltmeister in Obertal die Luft für das Wunder, und auf dem Minigolfplatz stellte Fritz Walter einen neuen Rekord auf: 32 Schläge. Ich habe als Bub später jedes Jahr versucht, ihn zu brechen, aber irgendwann erfolglos kapituliert.

Mit acht Schlägen haben es bei der WM dann die Ungarn unseren Deutschen besorgt. Ferenc Puskas und seine Puszta-Zauberer, unbesiegt in vier Jahren, zerlegten das Team um Fritz Walter in der Vorrunde in alle Einzelteile, Endstand 8:3. In Erwartung einer Niederlage hatte Herberger seine besten Spieler sicherheitshalber weggelassen, und er hätte die Demütigung besser auch seinem sensiblen Kapitän erspart. „Jahrelang war ich vor jedem Spiel so aufgeregt, dass mir schlecht wurde“, gestand Walter einmal, „ich saß dann oft bis kurz vor Anpfiff auf dem Klo.“ Das probate Gegenmittel fand Herberger, ein Fuchs in Sachen Menschenführung, aber im „Belvedere“: Auf Zimmer 303 kombinierte er den Grübler mit dem sorglosen Helmut („Boss“) Rahn, einer Stimmungskanone. „Helmut“, sagte der Chef, „baue Se mir den Fritz auf.“

Die Zwei ergänzten sich derart, dass der Grübler dann im Halbfinale zwei Elfmeterbälle seelenruhig im österreichischen Kasten versenkte und der Boss im Finale gegen die unschlagbaren Ungarn erst das 2:2 schoss und dann Herbert Zimmermann auch noch den Schrei aller Schreie entlockte: „Aus dem Hintergrund müsste Rahn schießen, Rahn schießt, Tooor, Tooor, Tooor – Tooor!“

Fritz Walter bekam als Weltmeister 2300 Mark, einen Motorroller, eine Couchgarnitur, einen Fernseher, einen Staubsauger und eine Nähmaschine. Er schrieb den Bestseller „3:2“ und spielte, um die verlorenen Kriegsjahre nachzuholen, dann auch noch die WM 1958 in Schweden. Und um ein Haar wäre es dort zum finalen Königsduell gekommen: Der 37-jährige Fritz Walter gegen den 17-jährigen Pelé.

Ein furchtbares Halbfinale hat den Traum dann zerstört, speziell den des Chronisten hier, der sich achtjährig seiner ersten WM hingab. Ein Bub vergisst nichts. Ich lag vor dem Radio und habe erst gezittert und am Ende geheult. Es handelte sich um eine der damals sehr beliebten Musiktruhen, links war das Fach mit dem Eierlikör und dem Kognac, rechts der Plattenspieler mit dem Radio, und aus dem brüllten 50 000 Schweden ihr „Heja! Heja!“ an jenem fürchterlichen Abend, der damit endete, dass uns Herbert Zimmermann an die Heimatfront durchgab, wie Fritz Walter gefoult und von den Cotrainern Schön und Gawliczek vom Platz getragen wurde, den Kopf in beide Hände vergraben. Für den Rest des Spiels hinkte er wie ein Kriegsversehrter auf Rechtsaußen.

Es war Fritz Walters letztes Länderspiel. Danach wurde er Ehrenspielführer, unter anderem eine Straße, eine Schule, ein Triebwagen der Bundesbahn, ein Sekt, ein Fußballturnier, eine Stiftung und das Stadion am Betzenberg wurden nach ihm benannt, und 2002 ist er zu Grabe getragen worden. Aber er lebt.

Denn ein großer Toter stirbt nie. Im „Belvedere“ ist jahrzehntelang sein Trikot nachgebaut worden, und flankierend gab es in Deutschland anlässlich eines runden Geburtstags des Berner Wunders für 14,90 Euro auch noch einen Regenschirm mit dem Aufdruck „Fritz-Walter-Wetter“. Er war dem Schirm nachempfunden, den man dem deutschen Kapitän hingehalten hatte, als ihm FIFA-Präsident Jules Rimet damals im Wankdorfstadion den WM-Pokal überreichte.

Es war ein Sauwetter am 4. Juli 1954 – aber so hat es der Fritz gewollt.

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WM in Südkorea 2002: „Es wird mich ein paar Tage quälen“

WM in Südkorea 2002: „Es wird mich ein paar Tage quälen“

Olli Kahn ist abgetaucht, er therapiert sich im Urlaub auf Sardinien. Wie kommt ein Fehlerloser mit einem Fehler klar – und dann auch noch mit so einem solchen wie am Sonntag im WM-Finale in Yokohama?

Als Oliver Kahn nach dem WM-Endspiel auf dem Boden hockte und haltsuchend mit dem verlängerten Rücken am Torpfosten lehnte, fertig mit sich, Gott und der Welt, war es von Vorteil, dass ihm keiner einen Revolver reichte – er hätte sich dankend den Fangschuss gegeben.

Was in ihm vorging?

Um davon eine ungefähre Ahnung zu haben, muss man lediglich wissen, was Vater Rolf einmal aus der Kindheit seines Olli berichtet hat: „Wenn der Bub beim Mensch-ärgere-dich-nicht verloren hat, sind mir die Figuren um die Ohren geflogen.“

So ähnlich muss es gewesen sein, nur viel schrecklicher, als der beste Torwart der Welt letzten Sonntag in Yokohama das Endspiel der Weltmeisterschaft verloren hat. Statt der Olli-ärgere-dich-nicht-Figuren hat er diesmal seine Handschuhe weggepfeffert, und im Übrigen wäre er auf der Stelle verrückt geworden, wenn er es, weil es die unheilbare Berufskrankheit aller Torleute ist, nicht schon vorher gewesen wäre. Ein Torwart muss verrückt sein, er geht auf dem schmalen Grat zwischen Held und Depp sonst zugrunde.

Schon früh in den 1990er Jahren, er war Anfang 20, hat mir Kahn sein Berufsbild erklärt. Als verheißungsvolles Talent stand er damals im Kasten des Karlsruher SC und hatte noch nicht viel erlebt, wusste aber bereits bestens, welche berufliche Herausforderung er sich da aufgehalst hatte: „Als Torwart bist du Einzelkämpfer“, sagte er, „ein Feldspieler kann seine Fehler auswetzen, der Torwart nicht. Das Leben im Tor macht einsam.“ Vor allem so ein Fehler.

Es war bei der ganzen WM sein einziger.

Was hatte er für ein tolles, unübertreffliches, überwältigendes Turnier gespielt, Freund und Feind hatte ihn gefeiert und gefürchtet als „King Kahn“ oder „Titan“. Ohne den Teufelskerl im Tor wäre Rudi Völlers DFB-Team nicht im Finale gelandet, sondern schnell nach der Vorrunde auf Schleichwegen heimgeflogen, Economy, Holzklasse, und auf dem Frankfurter Flughafen vermutlich mit einem Wurfhagel aus Südfrüchten und faulen Tomaten empfangen worden. Aber aus drei Gründen landete die Truppe stattdessen am Ende im Finale, nämlich „mit Kampf, Krampf und Kahn“, wie der TV-Reporter Marcel Reif wahrheitsgemäß vermeldete. Der beste Torwart der Welt wurde vor dem Anpfiff auch noch zum besten Spieler der WM gewählt. Und dann das: Er verliert dieses finale Spiel, das alles entscheidende, das wichtigste seiner Karriere.

„Es wird mich ein paar Tage quälen“, sagt er in der finsteren Nacht nach dem Malheur.

Ein paar Tage? Sein Leben lang wird er ihn verfolgen, denn die Welt ist gemein. „Die einzigen, die sich an dich erinnern, wenn du Zweiter wirst, sind deine Frau und dein Hund“, hat der Brite Damon Hill gesagt, als er in der Formel 1 an Michael Schumacher wieder einmal nicht vorbeikam. Wobei Kahn jetzt nicht mit Frau und Hund, sondern mit Frau und Kind versucht, die Gespenster loszuwerden. Nach Sardinien ist er angeblich geflüchtet, in den Urlaub, oder in die Therapie.

Vermutlich steht er in diesem Moment im Hotelzimmer vor dem Spiegel und beschimpft sich selbst, oder er beißt sich in die Backe, wie er es in der Bundesliga gelegentlich mit Gegenspielern macht, mit bis zum Anschlag vorgeschobenem Kinn und einer Fratze der Selbstverachtung. Denn nur als Fehlerloser und Nummer eins ist sich einer wie Kahn gut genug, so war es schon in seinen Anfangsjahren beim KSC, als ihm die Rivalen Famulla und Wimmer den Platz im Tor streitig machten – der arme Famulla, erinnert sich Rudi Wimmer, habe sich im Hotel sicherheitshalber nie mit Kahn auf ein Zimmer gelegt, „vor Angst, dass ihm der nachts das Kopfkissen aufs Gesicht drückt.“

Diese Angst muss Ollis Frau jetzt nicht haben, dafür aber anderweitig auf alles gefasst sein. Schlägt er im Schlaf um sich? Klatscht er Rivaldos Schuss auch in seinen Albträumen nochmal ab? Führt er zermürbende Selbstgespräche? Trommelt er mit den Fäusten gegen die Nachttischschublade? Wie verarbeitet Kahn diesen Tiefpunkt seiner Karriere, von dem er ahnt, dass es keinen tieferen geben wird? Wie geht er mit dem Mitleid um und dem Wissen, den Mythos der Unbezwingbarkeit verspielt zu haben? Als er da unten im Gras hockte, bezwungen, besiegt und innerlich beerdigt, sagte der Sat-1-Reporter Werner Hansch: „Mir kommt er in diesem Moment näher. Er ist wieder unter uns – als Mensch.“

Für Kahn ist das kein Trost. Der Außerirdische gegen den Rest der Welt, man kann sich als Torwart an solche Schlagzeilen gewöhnen. „Der Steingesichtige ist ein Gigant“, hatte ihn ein Blatt aus Dallas bestaunt, nachdem der US-Jungstar Landon Donovan frei vor Kahn wie das Kaninchen vor der Schlange erstarrt war – die Szene deckte sich mit der ins echte Leben übertragenen Blaupause jenes TV-Werbespots, in dem ein Elfmeterschütze, als er Kahn vor sich sieht, mitten im Anlauf umdreht und flüchtet. So wird man als Torwart irgendwann zum Ritter mit der stählernen Rüstung, an dem alles abprallt, Jahr für Jahr ist Kahn diesem Bildnis immer gerechter geworden, bis er letzte Woche vollends über allem schwebte, „Bild“ machte es kurz: „Die Faust Gottes.“

In der Etage über Olli wohnte höchstens noch der Allmächtige – aber dem wurde der Zauber dann offensichtlich zu bunt, und er hat die himmlische Hierarchie mittels der Schrecksekunde von Yokohama wieder zurechtgerückt.

Wie findet der gefallene Gigant jetzt auf Sardinien wieder zum inneren Frieden? Keiner weiß es, aber es fühlt sich zumindest beruhigend an, wenn man hört, dass er zur Entspannung angeblich gerne Vivaldi und Tschaikowsky hört und sich in Notfällen ergänzend noch auf das Buch „Mentale Stärke“ von James E. Loehr stützt. Es spricht also vieles dafür, dass Kahn demnächst wieder in die Handschuhe spuckt und die größten Kanoniere der Welt sich langsam schon wieder überlegen sollten, wie sie am besten vor ihm in Deckung gehen.

Auch der Bundeskanzler hat sich mittlerweile eingeschaltet und die Rückkehr des Bundestorwarts zur alten Stärke sozusagen zur Chefsache erklärt. „Olli Kahn ist nach diesem Fehler nicht kleiner, das ist doch Unsinn“, hat Gerhard Schröder die angeschlagene Nation beruhigt, und flankierend haben wir einen TV-Propheten auf Sat 1 sagen hören: „Ein Kahn kommt zurück, stärker denn je.“

Noch stärker? Gott steh ihm bei.

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WM in Spanien 1982: „Alle verhaften“

WM in Spanien 1982: „Alle verhaften“

Bei der Fußball-WM droht uns ein Duell, das düster an ein früheres erinnert. In Gijon fand es statt, bei der WM 1982 gegen Österreich. Es war eines jener Spiele, bei denen man als Reporter auf der Tribüne sitzt und gar nicht mehr glaubt, was man sieht. Ein „Tatort“-Kommissar riet nach der Übertragung spontan zu Handschellen.

Vor ein paar Tagen hat Jogi Löw erzählt, dass seine Freundschaft mit dem US-Nationaltrainer Jürgen Klinsmann zwar intakt ist, im Vorfeld des nahenden WM-Duells in Recife aber ruht – „wir hatten zuletzt keinen Kontakt“, verriet der Bundestrainer, „und werden vor dem Spiel vermutlich nicht mehr telefonieren.“

Jetzt sind alle gespannt.

Denn schlagartig hat sich eine Situation ergeben, in der gute Freunde durchaus zum Hörer greifen könnten, um entweder über das brasilianische Wetter, die dortigen schönen Frauen oder die Reize eines Unentschiedens zu reden. Der unwiderstehliche Charme einer solchen Punkteteilung bestünde nämlich darin, dass Deutschland und die USA dann bombensicher im Achtelfinale wären, da könnten die Portugiesen und Ghanaer spielen wie sie wollen und wären draußen, selbst wenn sie am Anstoßkreis im Handstand ein Bier trinken, ohne es zu verschütten.

Sie glauben nicht an einen solchen Spuk?

Ich auch nicht. Aber die journalistische Sorgfaltspflicht zwingt mich, an jenen holländischen Kollegen zu erinnern, der sich am 25. Juni 1982 vor dem WM-Vorrundenspiel Deutschland gegen Österreich im Stadion „El Molinon“ im spanischen Gijon neben mich setzte und sagte: „Die werden sich einigen.“ Es hat mich viel Mühe gekostet, ihn vom Gegenteil zu überzeugen – dass nämlich die Deutschen sich an den Wienern grausam rächen würden für die gerade vier Jahre alte „Schmach von Cordoba“. Und auf der Gegenseite hatte Torwart Friedl Koncilia tags zuvor wüst gedroht: „Wir schicken die Deutschen nach Hause.“

Die Ausgangslage war so: Deutschland hatte gegen Algerien sensationell verloren und erst einen Sieg auf dem Konto, die Österreicher hatten ihre beiden Spiele gewonnen, und es gab nur ein einziges Ergebnis, das beide an den Nordafrikanern vorbei in die Zwischenrunde hieven würde – 1:0 für Deutschland. Horst Hrubesch schoss dieses 1:0, in der elften Minute.

„Und nun pass auf“, sagte der Holländer.

Als einer der letzten überlebenden Augenzeugen des Unfassbaren, das sich danach ereignete, muss ich leider kleinlaut zugeben, dass die restlichen 79 Minuten weitgehend so abliefen: Der Ball wurde von beiden Teams in der eigenen Hälfte minutenlang hin- und hergeschoben und, damit die Torhüter Schumacher und Koncilia nicht einschliefen, gelegentlich zu denen zurückgespielt. Die nahmen ihn dann jedes Mal mit der Hand auf, was bei Rückpässen damals noch erlaubt war, spazierten mit dem Ball unter dem Arm eine Weile durch ihren Strafraum, schossen ihn dann nach vorne, und danach war wieder der Gegner dran. Kurz: Man war sich stillschweigend einig, am günstigen Ergebnis nicht mehr zu rütteln. Zweikämpfe fanden nur noch alibimäßig statt, aus tabellarischen Vernunftsgründen erschien ein Schuss aufs Tor nicht mehr ratsam, und alle hielten sich dran.

Bis auf Schoko.

Walter („Schoko“) Schachner, der aufrechte Steiermärker, hat irgendwann tatsächlich einmal versucht, den Ausgleich zu schießen und sich später bitter beklagt: „Ich bin da vorne gelaufen wie ein Wahnsinniger und war richtig ang’fressen, denn die haben mich nicht angespielt.“ Sogar zu einer Gelben Karte hat er es in seinem Übereifer geschafft. Er kapierte eindeutig als Letzter, was da lief. Schachner später: „In der Pause hat es zwischen ein paar wichtigen Spielern beider Teams, die sich gut verstanden, Absprachen gegeben, dass man es bei diesem Resultat belassen soll. Ich hab` aber nix mitgekriegt.“

Unvermeidlich kam es deshalb dann zu diesem legendären Zwischenfall, als Schoko den Nichtangriffspakt brach und knallhart in Richtung des deutschen Tores abzog. Freund und Feind waren gleichermaßen fassungslos und empört. Der deutsche Vorstopper Karlheinz Förster, erinnern sich verlässliche Ohrenzeugen, spitzte seinen Gegenspieler Krankl auf der Stelle mit einem „Hei, Hansi!“ derart an, dass der zum Mitspieler Schachner fuchsteufelswild hinüberdrohte: „Schoko, wannsd` dös no amol mochst…“

Während der deutsche TV-Kommentator Eberhard Stanjek empört von einer „Schande“ sprach und sein Wiener Kollege Robert Seeger die Zuschauer zum Abschalten aufforderte, wedelten 40 000 entrüstete Spanier im Stadion mit weißen Taschentüchern und brüllten „Küsst Euch!“ Die sich beschissen fühlenden Algerier winkten derweil mit Geldscheinen, was den österreichischen Delegationsleiter Hans Tschak vollends in den Tiefpunkt des Tages trieb, indem er hinterher sagte: „Natürlich ist heute taktisch gespielt worden. Aber wenn deswegen hier 10 000 Wüstensöhne im Stadion einen Skandal entfachen wollen, zeigt das, dass die zu wenig Schulen haben. Da kommt so ein Scheich aus einer Oase, darf nach 300 Jahren mal WM-Luft schnuppern und glaubt, jetzt die Klappe aufreißen zu können.“

Es ist, ich verrate hier nichts Neues, beim 1:0 geblieben. Die Lokalzeitung „El Commercio“ veröffentlichte die Spielanalyse anderntags im Polizeibericht, und ein weiteres spanisches Blatt wurde im Wühlkorb der großdeutschen Geschichte fündig und titelte: „El Anschluss“. Umso lockerer sagte Hansi Krankl im Namen sämtlicher Spieler: „Ich weiß nicht, was man will. Wir sind qualifiziert.“

Der holländische Kollege hat mir beim Schlusspfiff dann übrigens grinsend auf die Schenkel geklopft. Und aus der Heimat erreichte uns in Gijon noch am selben Abend die Nachricht, dass der ARD-Moderator Hans-Joachim Rauschenbach seinen Studiogast, den Wiener „Tatort“-Kommissar Kurt Jaggberg, nach dem Spiel gefragt hatte: „Was kann man da machen?“

„Alle verhaften“, sagte der Kommissar.

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WM in England 1966: „Dieser gierige Kraut“

WM in England 1966: „Dieser gierige Kraut“

Das dritte Tor von Wembley ist gerächt: Helmut Haller hat 1966 nach dem Schlusspfiff den WM-Ball geklaut, der nicht drin war – und ihn den Engländern Jahre später für viel Geld wieder angedreht.

Kürzlich hat ein 16-Jähriger einen Schnapsladen überfallen und unter Androhung von Waffengewalt die Herausgabe hochprozentiger Getränke erzwungen – aber die Strafe fiel glimpflich aus, der Richter erkannte auf mildernde Umstände aufgrund schwerer Kindheit.

Ich weiß, was er meint.

Denn schwerer als meine kann eine Kindheit nicht sein. Bei der ersten WM, die ich mitbekam, war ich acht, das war 1958, und wir sind im Halbfinale gegen die Schweden schamlos beschissen worden. Aber vor allem kam dann 1966 auch noch dieses traumatische Schlüsselerlebnis hinzu, das ein heranwachsender 16-Jähriger normalerweise nicht verkraftet, ohne straffällig zu werden – jener unerträgliche Moment am unsäglichen 30. Juli 1966, als Rudi Michel den Satz in sein ARD-Mikrofon zitterte, den kein Deutscher jemals vergisst: „Kein Tor! Kein Tor! Oder doch? Und jetzt, was entscheidet der Schiedsrichter?“ Gottfried Dienst, die Schweizer Pfeife, entschied auf Tor.

Der Deutsche Fußball-Bund eröffnet am Wochenende die Ausstellung „50 Jahre Wembley-Tor“ und wird hoffentlich ein Mahnmal enthüllen, damit so ein Unrecht nie wieder passiert. Aber auf jeden Fall haben die Engländer schon einmal den richtigen Dämpfer erhalten: Das Auktionshaus „Sotheby`s“ wollte kürzlich das Trikot versteigern, in dem Geoff Hurst im damaligen WM-Finale uns Deutsche mit drei Toren erschossen hat – aber keiner kauft es.

Ein Ladenhüter.

Eigentlich müsste jeder halbwegs anspruchsvolle englische Souvernirjäger Haus und Hof für ein Stück WM-Hauch von 1966 verkaufen, aber für das auf 600 000 geschätzte Heldenhemd von Hurst ging nicht einmal das Mindestangebot ein. Das rote Stück Stoff mit der „10“ wird gemieden, als ob Blut daran klebt. Dabei sind es nur Hursts Schweiß und die Tränen von Hans Tilkowski, Willi Schulz, Siggi Held oder Uwe Seeler, die am Sonntag die DFB-Ausstellung in Dortmund eröffnen. Wenn sie von Hursts Hemdenflop hören, werden die deutschen Spieler in den Himmel hinaufzwinkern zu Helmut Haller – und unser unvergessenes Schlitzohr aus Augsburg wird sich mit seinem Lausbubengrinsen auf die Schenkel klopfen und den alten Gassenhauer „Souvenirs, Souvenirs“ von Bill Ramsey trällern.

Denn Haller, der bei jener WM das sagenhafte Mittelfeldtrio Haller-Beckenbauer-Overath krönte, hat nach dem Schlusspfiff den Ball geklaut.

Der dreiste Diebstahl ist durch Bilder belegt: Man sieht Haller, wie er mit dem unter den Arm geklemmten Ball in der Loge den Knicks vor der Queen macht. Oder später beim Abschlussbankett, als er die Heiligen Drei Könige der WM ihre Autogramme draufschreiben lässt: Pele, Eusebio und Bobby Charlton. Helmut Haller war ein Meister der Wertanlage. Er spürte: Was er sich da unter den Nagel gerissen hatte, war der berühmteste Ball der Fußballgeschichte – der Ball, der nicht drin war.

Damit kommen wir nochmal zu dieser verdammten, verfluchten 101. Minute. Geoff Hurst schießt, der Ball knallt an die Latte – und nach unten. Vor die Linie? Auf die Linie? Hinter die Linie? Schiedsrichter Gottfried Dienst, ein Postbeamter aus Basel, weiß es nicht. Sein Linienrichter Tofik Bachramov, ein Schnauzbart aus Baku am Kaspischen Meer, weiß es auch nicht, brüllt aber Dienst plötzlich an: „Is gol, gol, gol!“ 3:2. Das Tor des Jahrhunderts ist gefallen, aber nur ein Mensch auf der Welt hat es wirklich gesehen: Heinrich Lübke, unser Staatsoberhaupt. Es ist immer noch kurz nach dem Krieg, und in einer ausschweifenden Mischung aus deutscher Demut, politischer Korrektheit und beginnender Tüteligkeit behauptet der Bundespräsident: „Der Ball war drin.“

Selbst Geoff Hurst ist sich da später weit weniger sicher („Tor? Eher nicht“), und irregulär ist auf jeden Fall sein 4:2, denn bei diesem letzten Konter muss er an englischen Fans vorbeisprinten, die schon feiernd das Spielfeld bevölkern. Dieses Chaos nutzt Helmut Haller zum geistesgegenwärtigen Stehlen des Balles. Daheim in Augsburg schenkt er ihn seinem Sohn Jürgen zum fünften Geburtstag, und der übt mit dem runden Ding so fleißig im Garten, dass er es später zum Bundesligaspieler bringt. Manchmal leiht Papa Haller den Ball auch aus, beispielsweise zu Festen, Ausstellungen und Betriebsjubiläen. Bis sich, dreißig Jahre danach, die Engländer am Kopf kratzen: „Wo ist eigentlich unser WM-Ball?“

„Ich habe ihn nicht“, schwört Hurst. Als dreifacher Finaltorschütze hält sich der von der Königin zum Ritter geschlagene Sir Geoffrey urplötzlich für den rechtmäßigen Besitzer des Balls, und die englische Revolverpresse zieht in den Krieg und startet im Rahmen einer emotional aufgewühlten Kampagne die große Heimholaktion. Im April 1996 ist es schließlich so weit. Hallers Sohn fliegt mit dem Objekt der Begierde nach London, und der Ball wird nach der Landung von Hurst im Blitzlichtgewitter der Kameras geküsst. Danach landet er in einer Vitrine auf der „Waterloo Station“, und gut eingefettet krönt er inzwischen das National Football Museum in Lancashire.

Hatte Haller ein Herz für Hurst? Glaubhafter klingt die These, eine patriotische englische Investorengruppe habe an den pfiffigen Augsburger eine Lösegeldzahlung von 240 000 Mark geleistet, worauf das Boulevardblatt „Sun“ sofort schäumte: „Dieser gierige Kraut.“ So oder so: Helmut Haller war mit dem WM-Ball besser bedient als Hurst mit seinem Trikot. Die Engländer sind als Erfinder des Fairplays offenbar so pingelig, dass sie dieses fragwürdige Hemd nicht einmal mehr mit der Kneifzange anpacken wollen.

Für Sir Geoffrey ist das alles ziemlich blamabel. Und neidisch blickt „Sotheby`s“ nach München, denn anders als in London fanden sich dort neulich problemlos Käufer, als Adolf Hitlers Socken, Eva Brauns burgundrotes Sommerkleid und Hermann Görings seidene Unterhose versteigert wurden.

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WM in Deutschland 1974: „Block E 2, Stehplatz, Preis 15 Mark“

WM in Deutschland 1974: „Block E 2, Stehplatz, Preis 15 Mark“

„Komm mit, Kerle, kriegsch a Kart` fürs Endspiel“, sagte Gotthilf Fischer am 6. Juli 1974. Tags darauf sangen uns die Fischer-Chöre zum WM-Sieg, und der Fischer-Chor-Reporter hatte den perfekten Platz: Direkt vor mir fielen die deutschen Tore – aber am schönsten fiel Bernd Hölzenbein.

Es gibt Dinge, die man sein Leben lang nicht wegwirft. Man steckt sie am Abend des Tages, an dem sie einem wichtig geworden sind, in die Zigarrenkiste mit den unsterblichen Erinnerungsstücken – und kramt sie in stillen Momenten wieder hervor.

Manchmal dauert es dreißig Jahre. Das verstaubte Souvenir, von dem ich hier und heute erzählen will, hat gelitten. Der Zahn der Zeit hat an ihm genagt, womöglich sogar eine verfressene Motte, jedenfalls ist es verknittert und kommt an den Ecken etwas abgerissen daher. „München, 15 Uhr, Block E 2, Stehplatz“, steht auf der Karte. Und das Datum.

7. Juli 1974.

Mein Stehplatz in Block E 2 war, um es vorweg zu nehmen, ein guter Platz. Er hat mich beispielsweise davor bewahrt, die erste Szene des Endspiels um die Fußballweltmeisterschaft 1974 in ihrer vollen Tragweite zu erkennen – schließlich lagen ungefähr hundertdreißig Meter zwischen mir und der Stelle, an der Uli Hoeneß gegen Johan Cruyff das Bein stehen ließ. Natürlich drang die Kunde von der Katastrophe irgendwie doch schnell bis Block E 2 durch: Der Schiedsrichter pfiff Elfmeter, Johan Neeskens schoss, der Lautsprecher gab den neuen Spielstand bekannt, und ich ließ auf meinem Stehplatz den Rüssel hängen bis hinunter zu den Füßen. Doch dann habe ich am Anstoßkreis, der nicht ganz so weit entfernt war, den Müller gesehen, der aufgrund seines mangelhaft ausgeprägten Aberglaubens freiwillig die Unglückszahl 13 auf dem Rücken trug, und mit seiner angeborenen Bierruhe hat der Bomber in die Hände geklatscht und gebrüllt, dass ich es fast bis hoch in Block E 2 hörte: „Auf geht’s, Uli – noch 89 Minuten!“

Das war die eine gute Tat des Gerd Müller an jenem historisch wertvollen Tag. Die andere, zweiundvierzig Minuten später, war sein 2:1. Danach waren wir Weltmeister – und feiern nun heute das 30-jährige Jubiläum, wenn auch etwas gedämpfter als das Wunder von Bern anno `54.

Das war eine andere Geschichte, aus einer anderen Zeit. 1974 sind schon die ersten Millionäre in kurzen Hosen auf dem Platz gestanden – keine ausgezehrten Kriegsheimkehrer mehr, die die wunde Seele eines geplätteten Volks balsamierten. Herbergers Helden hätten, um siegen zu dürfen, damals das Torgebälk noch eigenhändig auf den Platz getragen, mit Sägemehl die Linien gestreut und den Ball aufgeblasen – sie waren noch andere Helden, und ihre Prämien waren noch Kühlschränke, Waschmaschinen und Geschenkkörbe mit Fressalien.

Um es kurz zu machen: Die Holländer waren an jenem 7. Juli 1974 in München besser, sie hatten aber keinen Hölzenbein. Vermutlich war es unser Haken schlagender Hesse, der den Dichter Salman Rushdie später zu den wunderbaren Zeilen inspiriert hat: „Schwalben im Strafraum sind wie ein Taschenspielertrick, aber gute Schwalben sind große Kunst. Eine gute Schwalbe ist wie ein Lachs, der hochschnellt, sich dreht und ins Wasser zurückfällt. Eine gute Schwalbe ist wie das Sterben des Schwans.“

Die von Bernd Hölzenbein gegen die Holländer war derart perfekt, dass ich, obwohl der Spitzbube sich direkt vor meinem Block E 2 hingelegt hat, für einen Moment überlegt habe, ob es überhaupt eine Schwalbe war. Viele Jahre später, anlässlich eines DFB-Jubiläumsbanketts, stand der Schalker Olaf Thon auf der Toilette neben Hölzenbein an der Pissrinne und sagte plötzlich, mitten ins beiderseitige Rieseln hinein: „Bernd, ich glaube, man kann ihn geben.“ Aber so oder so, Hauptsache, der Elfer von Paule Breitner hinterher war drin.

Die Holländer, Hut ab, waren klasse. Doch wir hatten, wie 1954, wieder unseren Seppl, diesmal nicht als Trainer, sondern im Tor, vor ihm hat Berti den großen Cruyff in den Wahnsinn und die Selbstaufgabe getrieben, und Katsche Schwarzenbeck, der Putzer vom Kaiser, ist von Franz Beckenbauer ständig als Fels in die Brandung der holländischen Angriffswellen geworfen worden. Aber vor allem hatten wir unseren „Bomber der Nation“, der in Wahrheit der Abstauber der Nation war – seine Tore fielen stets aus dem Nichts.

Hat am 7. Juli 1974 auch nur einer von uns 80 000 im Olympiastadion den Müller ernsthaft am Ball gesehen, bevor er unmittelbar vor der Halbzeit zuschlug? Als überlebender Augenzeuge aus Block E 2 kann ich den Vorfall heute noch hautnah schildern: Bonhof geht schräg vor meinen Augen steil, drischt den Ball flach und blind nach innen, Müller stoppt ihn mit dem Rücken zum Tor, aussichtslos also, doch plötzlich stellt er seinen schwäbischen Hintern hinaus, dreht sich um die eigene Pobacke, und den Rest hatte er kurz zuvor schon auf Platte besungen: „Dann macht es bumm…“

Wie entfesselt ist sich Block E 2 in diesem Moment kollektiv in die Arme gefallen, und erschöpft von dem grausamen, Nerven zerfetzenden, die ganze zweite Halbzeit anhaltenden Anrennen der Holländer auf das Tor direkt vor unseren Augen sind wir beim Schlusspfiff auf die Knie gesunken wie unser Bomber Müller – leider hat der sich abends beim Bankett im Hilton eine dicke Zigarre angesteckt, mit dem Breitnerpaule um die Wette gepafft und seinen Rücktritt erklärt.

Ansonsten war es aber ein traumhafter Tag.

Schon wegen der Fischer-Chöre, die diesem großen Spiel im Olympiastadion den musikalischen Rahmen gegeben haben und die ich noch dreißig Jahre danach gar nicht genug loben kann – es war nämlich so, dass Gotthilf Fischer am Tag vor dem Spiel die beste Idee seines Lebens hatte. Ein Remstäler wäscht die Hand des anderen, also hat der große Chorleiter zum kleinen Lokalreporter B., der bei seiner Kreiszeitung damals noch Sonderberichterstatter mit dem Schwerpunkt Fischer-Chöre war, kurzerhand gesagt: „Komm mit, Kerle, kriegsch a Kart` fürs Endspiel.“

Und dann auch noch in der Kurve, in der das Tor vom Breitnerpaule und von Bomber Müller gefallen ist, und Hölzenbein über das ausgestreckte Bein von Wim Janssen. Spätestens zum Fünfzigjährigen hole ich die verstaubte Eintrittskarte wieder heraus, und die Enkel werden vor Ehrfurcht Bauklötze staunen: „Du warst dabei, Opa?“

Und wie. Sogar die 15 Mark hat mir Gotthilf erlassen.

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