WM in Deutschland 1974: „Block E 2, Stehplatz, Preis 15 Mark“

WM in Deutschland 1974: „Block E 2, Stehplatz, Preis 15 Mark“

„Komm mit, Kerle, kriegsch a Kart` fürs Endspiel“, sagte Gotthilf Fischer am 6. Juli 1974. Tags darauf sangen uns die Fischer-Chöre zum WM-Sieg, und der Fischer-Chor-Reporter hatte den perfekten Platz: Direkt vor mir fielen die deutschen Tore – aber am schönsten fiel Bernd Hölzenbein.

Es gibt Dinge, die man sein Leben lang nicht wegwirft. Man steckt sie am Abend des Tages, an dem sie einem wichtig geworden sind, in die Zigarrenkiste mit den unsterblichen Erinnerungsstücken – und kramt sie in stillen Momenten wieder hervor.

Manchmal dauert es dreißig Jahre. Das verstaubte Souvenir, von dem ich hier und heute erzählen will, hat gelitten. Der Zahn der Zeit hat an ihm genagt, womöglich sogar eine verfressene Motte, jedenfalls ist es verknittert und kommt an den Ecken etwas abgerissen daher. „München, 15 Uhr, Block E 2, Stehplatz“, steht auf der Karte. Und das Datum.

7. Juli 1974.

Mein Stehplatz in Block E 2 war, um es vorweg zu nehmen, ein guter Platz. Er hat mich beispielsweise davor bewahrt, die erste Szene des Endspiels um die Fußballweltmeisterschaft 1974 in ihrer vollen Tragweite zu erkennen – schließlich lagen ungefähr hundertdreißig Meter zwischen mir und der Stelle, an der Uli Hoeneß gegen Johan Cruyff das Bein stehen ließ. Natürlich drang die Kunde von der Katastrophe irgendwie doch schnell bis Block E 2 durch: Der Schiedsrichter pfiff Elfmeter, Johan Neeskens schoss, der Lautsprecher gab den neuen Spielstand bekannt, und ich ließ auf meinem Stehplatz den Rüssel hängen bis hinunter zu den Füßen. Doch dann habe ich am Anstoßkreis, der nicht ganz so weit entfernt war, den Müller gesehen, der aufgrund seines mangelhaft ausgeprägten Aberglaubens freiwillig die Unglückszahl 13 auf dem Rücken trug, und mit seiner angeborenen Bierruhe hat der Bomber in die Hände geklatscht und gebrüllt, dass ich es fast bis hoch in Block E 2 hörte: „Auf geht’s, Uli – noch 89 Minuten!“

Das war die eine gute Tat des Gerd Müller an jenem historisch wertvollen Tag. Die andere, zweiundvierzig Minuten später, war sein 2:1. Danach waren wir Weltmeister – und feiern nun heute das 30-jährige Jubiläum, wenn auch etwas gedämpfter als das Wunder von Bern anno `54.

Das war eine andere Geschichte, aus einer anderen Zeit. 1974 sind schon die ersten Millionäre in kurzen Hosen auf dem Platz gestanden – keine ausgezehrten Kriegsheimkehrer mehr, die die wunde Seele eines geplätteten Volks balsamierten. Herbergers Helden hätten, um siegen zu dürfen, damals das Torgebälk noch eigenhändig auf den Platz getragen, mit Sägemehl die Linien gestreut und den Ball aufgeblasen – sie waren noch andere Helden, und ihre Prämien waren noch Kühlschränke, Waschmaschinen und Geschenkkörbe mit Fressalien.

Um es kurz zu machen: Die Holländer waren an jenem 7. Juli 1974 in München besser, sie hatten aber keinen Hölzenbein. Vermutlich war es unser Haken schlagender Hesse, der den Dichter Salman Rushdie später zu den wunderbaren Zeilen inspiriert hat: „Schwalben im Strafraum sind wie ein Taschenspielertrick, aber gute Schwalben sind große Kunst. Eine gute Schwalbe ist wie ein Lachs, der hochschnellt, sich dreht und ins Wasser zurückfällt. Eine gute Schwalbe ist wie das Sterben des Schwans.“

Die von Bernd Hölzenbein gegen die Holländer war derart perfekt, dass ich, obwohl der Spitzbube sich direkt vor meinem Block E 2 hingelegt hat, für einen Moment überlegt habe, ob es überhaupt eine Schwalbe war. Viele Jahre später, anlässlich eines DFB-Jubiläumsbanketts, stand der Schalker Olaf Thon auf der Toilette neben Hölzenbein an der Pissrinne und sagte plötzlich, mitten ins beiderseitige Rieseln hinein: „Bernd, ich glaube, man kann ihn geben.“ Aber so oder so, Hauptsache, der Elfer von Paule Breitner hinterher war drin.

Die Holländer, Hut ab, waren klasse. Doch wir hatten, wie 1954, wieder unseren Seppl, diesmal nicht als Trainer, sondern im Tor, vor ihm hat Berti den großen Cruyff in den Wahnsinn und die Selbstaufgabe getrieben, und Katsche Schwarzenbeck, der Putzer vom Kaiser, ist von Franz Beckenbauer ständig als Fels in die Brandung der holländischen Angriffswellen geworfen worden. Aber vor allem hatten wir unseren „Bomber der Nation“, der in Wahrheit der Abstauber der Nation war – seine Tore fielen stets aus dem Nichts.

Hat am 7. Juli 1974 auch nur einer von uns 80 000 im Olympiastadion den Müller ernsthaft am Ball gesehen, bevor er unmittelbar vor der Halbzeit zuschlug? Als überlebender Augenzeuge aus Block E 2 kann ich den Vorfall heute noch hautnah schildern: Bonhof geht schräg vor meinen Augen steil, drischt den Ball flach und blind nach innen, Müller stoppt ihn mit dem Rücken zum Tor, aussichtslos also, doch plötzlich stellt er seinen schwäbischen Hintern hinaus, dreht sich um die eigene Pobacke, und den Rest hatte er kurz zuvor schon auf Platte besungen: „Dann macht es bumm…“

Wie entfesselt ist sich Block E 2 in diesem Moment kollektiv in die Arme gefallen, und erschöpft von dem grausamen, Nerven zerfetzenden, die ganze zweite Halbzeit anhaltenden Anrennen der Holländer auf das Tor direkt vor unseren Augen sind wir beim Schlusspfiff auf die Knie gesunken wie unser Bomber Müller – leider hat der sich abends beim Bankett im Hilton eine dicke Zigarre angesteckt, mit dem Breitnerpaule um die Wette gepafft und seinen Rücktritt erklärt.

Ansonsten war es aber ein traumhafter Tag.

Schon wegen der Fischer-Chöre, die diesem großen Spiel im Olympiastadion den musikalischen Rahmen gegeben haben und die ich noch dreißig Jahre danach gar nicht genug loben kann – es war nämlich so, dass Gotthilf Fischer am Tag vor dem Spiel die beste Idee seines Lebens hatte. Ein Remstäler wäscht die Hand des anderen, also hat der große Chorleiter zum kleinen Lokalreporter B., der bei seiner Kreiszeitung damals noch Sonderberichterstatter mit dem Schwerpunkt Fischer-Chöre war, kurzerhand gesagt: „Komm mit, Kerle, kriegsch a Kart` fürs Endspiel.“

Und dann auch noch in der Kurve, in der das Tor vom Breitnerpaule und von Bomber Müller gefallen ist, und Hölzenbein über das ausgestreckte Bein von Wim Janssen. Spätestens zum Fünfzigjährigen hole ich die verstaubte Eintrittskarte wieder heraus, und die Enkel werden vor Ehrfurcht Bauklötze staunen: „Du warst dabei, Opa?“

Und wie. Sogar die 15 Mark hat mir Gotthilf erlassen.

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WM in Mexiko 1970: „Ita-lia! Ita-lia!“

WM in Mexiko 1970: „Ita-lia! Ita-lia!“

Das Spiel des Jahrhunderts feiert Jubiläum. Nie war der Fußball wunderbarer und furchtbarer als am 17. Juni 1970: Im Aztekenstadion in Mexiko City steckten sie unserem versehrten Kaiser den Arm in die Schlinge, und daheim war es uns nach dem Strick – zu unerträglich wurden im Laufe der Nacht die Freudenschreie von den Nachbarbalkonen.

Vor ein paar Tagen hat der Chef der Sportredaktion mein Langzeitgedächtnis und meine Eignung für den folgenden Text mit der Frage getestet: „Wo warst Du am 17. Juni 1970?“

Jeder von uns kennt diese historischen Verhöre. Wo warst Du, als Neil Armstrong den Mond betrat? Wo warst Du, als in Berlin die Mauer fiel? Wo warst Du, als die Flugzeuge in die Zwillingstürme in Manhattan flogen?

Wo war ich am 17. Juni 1970?

Daheim im Fernsehsessel bin ich gehockt, wie jeder pflichtbewusste Deutsche, und habe abwechselnd gebrüllt vor Glück und geflucht vor Wut.

Fünfzig Jahre ist es her, aber ich sehe immer noch meinen Vater vor mir, wie er sich mitten in der Verlängerung ans Herz langt und sagt: „Ich muss ins Bett, ich ertrage das nicht.“ Dann ist er geflüchtet und hat mich alleingelassen mit diesem wunderbarsten und furchtbarsten Fußballspiel, das die Welt jemals gesehen hat.

Man muss Italiener sein, um in jener Nacht keine bleibenden seelischen Schäden erlitten zu haben. Wir Deutschen werden mit diesem WM-Halbfinale in Mexiko City, das als Fußball begann und als Folter endete, nie ins Reine kommen, da geht es uns wie Gerd Müller, der am Ende im Gras des Aztekenstadions lag und sich schwor: „Von diesem Spiel will ich mein Leben lang nichts mehr sehen. Ich würde heulen.“

Näher als in jener Nacht sind sich Triumph und Tragödie nie gekommen. Die Gefühle fuhren Achterbahn und Geisterbahn, und das Unbegreifliche ist am Aztekenstadion verewigt mit einer Gedenkplakette, vor der sich die Fußballfans seit fünfzig Jahren verbeugen wie die Pilger in Mekka: „Italia – Alemania. 17 de junio de 1970. Partido del siglo.“ Das Spiel des Jahrhunderts.

Die Dramaturgie des Gruselns und Grauens beginnt in der siebten Minute. 0:1, Boninsegna.

Roberto Boninsegna. Keiner ahnt in dem Moment, dass dieser Name uns Deutsche bald im Schlaf verfolgen wird. Dass er uns schon ein Jahr später wiederbegegnen wird in einer traurigtollen Europacupnacht, in der Günter Netzer das Spiel seines Lebens macht. Mit seinen Gladbachern schießt der “King vom Bökelberg” die amtierenden Weltpokalsieger von Inter Mailand mit 7:1 aus den Schuhen, nur ein Ausfall des Flutlichts könnte die Italiener an dem Abend retten oder der Wurf einer Cola-Dose. Die feuert der Lagerarbeiter Manfred K. dann tatsächlich ab, an den Kopf von Boninsegna, der gerade einen Einwurf macht. Andere schwören, die Büchse habe nur seinen Rücken gestreift. Die Dose war auf jeden Fall leer, aber wie von der Axt erschlagen fällt Boninsegna um. Sieben Minuten lang liegt er regungslos da, das Herbeirufen eines Priesters für die letzte Ölung scheint unumgänglich, und auf der Bahre trägt man den Mausetoten schließlich hinaus. Das 7:1 wird hinterher am grünen Tisch annulliert, Gladbach fliegt raus, Netzers größtes Spiel hat nie stattgefunden, und das übelste Schimpfwort im deutschen Fußball heißt fortan nicht Schauspieler oder Spitzbube, sondern Boninsegna.

Aber das weiß in der siebten Minute am 17. Juni 1970 noch niemand. Man weiß nur, dass es jetzt 1:0 für Italien steht, Tor Boninsegna. Danach stürmt nur noch Deutschland. Schüsse, Kopfbälle, Eckbälle, Querschläger. Facchetti foult Beckenbauer. Im Strafraum stürzt auch Seeler. „Der Sauhund bescheißt uns!“, flucht irgendwann Müller.

Er meint Arturo Yamasaki, den mexikanischen Schiedsrichter. Drei Elfmeter verweigert er den Deutschen und gibt damit die Vorlage für den pfiffigen TV-Spot, den Olli (“Dittsche”) Dittrich später für eine große Elektronikfirma dreht. Er verkörpert darin einen italienischen Toni, wie der normal veranlagte Fußballdeutsche ihn sich vorstellt, glitzernde Goldkette, Mafiasonnenbrille, einen Eimer Gel im Haar und immer einen coolen Spruch auf den Lippen – in dem Fall lacht Toni uns Deutsche dafür aus, dass wir uns vor einer WM immer neue Fernseher kaufen. “Was kaufen die Italiener?”, grinst Toni. “Sie kaufen die Schiedsrichter.”

Jedenfalls wird Yamasaki zum Sargnagel zahlreicher deutscher Bemühungen. Obwohl Beckenbauer nach Facchettis Foul nur noch einen brauchbaren Arm hat (den anderen hat man ihm samt Schulter mit Klebebändern am Körper befestigt), schleppt der Kaiser wie ein Kriegsversehrter Ball für Ball an die Front. „A-le-ma-nia!“, brüllen die Mexikaner. Overath trifft die Latte, einmal tanzt der Ball auf der Torlinie, doch das Bollwerk des Catenaccio hält.

Dann läuft die 90. Minute, und die Italiener rechnen mit allem, nur nicht mit Karl-Heinz Schnellinger. „Carlo“ rufen sie den Kölner, er spielt seit Jahren beim AC Mailand, als Verteidiger. Die Mittellinie überschreitet er dort nie. Doch plötzlich ruft nun von der deutschen Bank einer aufs Feld: „Carlo, vor!“

„Wohin?“, soll Schnellinger noch zurückgerufen haben, denn er kennt sich da vorne nicht aus – aber dann fragt er sich irgendwie durch, schleicht sich vors italienische Tor und macht instinktiv, was er auch hinten immer macht: Mit gestrecktem Bein stürzt er sich in Grabowskis Flanke. 1:1. „Ausgerechnet Schnellinger!“, brüllt Ernst Huberty in sein ARD-Mikrofon. In Deutschland ist es dreiviertel Eins in der Nacht, und es ist das Tor zur Verlängerung. Aber vor allem das Tor zum Verrücktwerden. Was danach passiert, reißt die ganze Welt mit. Mit pochendem Puls dichtet Walter Lutz, der Chefredakteur des Zürcher „Sport“, wie ihn der Wahnsinn übermannt „im faszinierendsten, aufwühlendsten und spannendsten Fußballkampf, den ich je erlebt habe, im mitreißendsten und hochklassigsten Spiel dieses WM-Turniers, in einem Match, in dem in der Verlängerung alle Dämme brechen, sich alle Schleusen großherzig öffnen und in welchem alle fußballerischen Grundregeln über den Haufen geworfen werden.“

Das 2:1 durch Gerd Müller löst die Lawine des Irrsinns. Mit dem Schenkel (oder ist es die Arschbacke?) wurschtelt er den Ball ins Tor, und für die 102 000 Augenzeugen im Aztekenstadion und das weltweite Milliardenpublikum, darunter mich, ist schlagartig klar: Die Italiener sind fertig, ausgelaugt von der dünnen mexikanischen Luft und der Gluthitze, 50 Grad hat es auf dem Platz. Aber stattdessen unterläuft Siggi Held der Fehler seines Lebens. 2:2 durch Burgnich.

Es ist mittlerweile kein Spiel mehr, sondern eine wilde Mischung aus Herzschlag, Hitzschlag und Hitchcock. Ein „Bild“-Reporter lässt sich daheim in der Redaktion an eine Maschine anschließen, die ihm einen Herzschlag von 139 bescheinigt. Als Armstrong den Mond betrat, hatte er 120.

2:3 durch Gigi Riva.

Ich versinke in meinem Sessel. Jeder von uns kennt solche Momente, in denen er vom Glauben abfällt. Und das Unglück wird nicht erträglicher durch das Stakkato der Jubelschreie von den Nachbarbalkonen: „Ita-lia!“

Machen die Italiener uns jetzt vollends fertig? Nein, beschließt Bomber Müller trotzig. Er ist neben dem Brasilianer Pele der Star der WM, neun Tore hat er schon geschossen, und vor Wut macht er jetzt sein zehntes. 3:3. Machtlos steht Gianni Rivera, der Milan-Star, auf der Torlinie und beißt ins Netz. Dann trottet Rivera mit hängendem Kopf zum Anstoß. Angriff der Italiener über links, Ball in den Strafraum.

3:4 durch Rivera.

Schluss. Aus. Als anständiger Deutscher bin ich jetzt fertig mit Gott und der Welt, und in der Nachbarschaft wird das „Ita-lia!“ immer demütigender. Aus Wolfsburg hört man noch, dass die VW-Gastarbeiter den Sieg dort mit Hupkonzerten feiern, und mit dem Schlachtruf: „Kartoffel kaputt. Spaghetti schmeckt gut.“ Es ist halb Zwei in der Nacht – und das einzig Schöne ist, dass der 17. Juni 1970 vorbei ist.

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Diego Maradona: „Ich habe Gott gesehen“

Diego Maradona: „Ich habe Gott gesehen“

Diego Maradona konnte Dinge, die ein Mensch eigentlich nicht kann. Seine Jünger hielten ihn deshalb für den verlängerten Arm und die Hand des Allmächtigen – und irgendwann, heißt es, kam dann der Tag, an dem er es ihnen glaubte.

Im Sommer 2018 wird die Fußball-Weltmeisterschaft in Russland überschattet von einem skurrilen Auftritt auf der Tribüne in St. Petersburg. Beim Spiel Argentinien gegen Nigeria wird Diego Maradona, sichtlich bedroht vom Wahnsinn, immer wieder in Großaufnahme in alle Welt übertragen.

„Ar-gen-ti-na!“, gröhlt er.

„Li-o-nel!“, fleht er.

Aber vor allem brüllt er verrückte Dinge über die Tribüne, die keiner versteht. Der einstige König des Fußballs ist komplett außer Kontrolle. Abwechselnd fordert er mit ekstatischen Zuckungen eine Nebensitzerin zum Tanz auf, lehnt sich lebensgefährlich über die Brüstung, um die Huldigungen seiner Fans entgegenzunehmen, stimmt wilde Gesänge an, zeigt dem Stadion und der Welt den gestreckten Mittelfinger und hält zwischendurch ein Nickerchen. Als Lionel Messi das sehnsüchtig herbeigerufene Tor erzielt, schwellen seinem Vorgänger auf dem Volksheldenthron die Adern an, auf dem Gipfel des Jubelns („Messi! Messi!“) treten ihm vollends die Augen aus dem Kopf, und als er nach dem Abpfiff die Tribüne verlässt, muss er gestützt werden.

Ins Krankenhaus liefern sie Maradona ein, und die Fußballwelt rechnet noch in der Nacht mit dem Schlimmsten. Doch tags darauf gibt der Wiedergeborene über Instagram Entwarnung, trotzig schreibt er: „Diego wird noch eine Weile da sein.“ Nun erreicht uns gestern die traurige Nachricht: Die Weile ist vorbei.

Diego Maradona ist tot.

Diesmal ist es wahr. Man muss das ausdrücklich sagen, denn viele werden es auf Anhieb nicht glauben, zu oft ist Maradona schon für tot erklärt worden. Gut in Erinnerung ist uns ein argentinischer Reporterkollege, der bei der WM 2010 in Südafrika sagte: „Eine Katze hat sieben Leben, aber bei Maradona haben wir mit dem Zählen aufgehört.“ Auch nach dem bizarren Tribünenstück in St. Petersburg war es so: Infolge eines Herzstillstands, verbreitete ein brandaktueller Wichtigtuer im Internet, sei der Fußballkönig im Krankenhaus verstorben. Glaubhaft und empört widersprach Maradona ein paar Tage später in seiner TV-Show:

Sehe ich aus, als wäre ich tot?

Er sah zumindest nicht gut aus.

Diego Armando Maradona. Man wird dieser grandiosen, verrrückten und unwiederholbaren Gestalt des Fußballs mit einem Nachruf nicht gerecht, man braucht zwei: Einen für den überirdischen Fußballgott – und den anderen für den armen Kerl abseits des Spielfelds, der ohne Ball am Fuß nicht immer klar kam und sich orientierungslos verirrte im unterirdischen Labyrinth des Lebens.

Dabei war dieses Leben gut losgegangen. Wer in Fiorito, diesem nicht vom Glück geküssten Stadtteil von Buenos Aires auf die Welt kommt, hat eigentlich keine Chance, aber die hat der kleine Wuschelkopf genutzt. Schon mit 16 war „El Pibe de Oro“, der Goldjunge, alt genug für das erste Länderspiel, und sein argentinischer Nationaltrainer Cesar Luis Menotti sagte: „Was Diego mit den Füßen kann, schaffen wir Sterblichen nicht einmal mit den Händen.“ Nicht viel später begeisterte das Wunderkind beim FC Barcelona und SSC Neapel, als der mittlerweile beste Fußballer der Welt.

Er war vor allem der König der Napolitaner, und unvergesslich bleibt für alle, die dabei waren, seine One-Man-Show vor dem UEFA-Cupfinale 1989 gegen den VfB Stuttgart. 70 000 Schwaben saßen im Neckarstadion, als sich der Zauberer beim Warmup am Anstoßkreis den Ball auf den Fuß schaufelte und zu jonglieren begann. Der Ball hüpfte auf seinen anderen Fuß, dann aufs Knie, auf die Brust, auf den Kopf, ruhte sich kurz aus im Nacken, und zurück ging es, Kopf, Brust, Knie, Fuß. Minutenlang ging das so, kein einziges Mal gestattete der Zauberer dem Ball die Kontaktaufnahme mit dem Boden, und 70 000 Schwaben saßen irgendwann nicht mehr, sondern standen und feierten („Diego! Diego!“) diesen Zirkusakrobaten, der ihnen das größte Erlebnis ihres Zuschauerlebens schenkte. Ich habe an dem Abend für die Sendung „Sport unter der Lupe“ einen Film gedreht und stand staunend an der Seitenlinie, und als Maradona, um den pünktlichen Anstoß nicht zu gefährden, den Ball dann doch endlich fallen ließ, sagte mein Kameramann: „Jetzt können wir gehen. Was Besseres kriegen wir heute nicht mehr.“

Noch besser war Maradona höchstens bei der WM 1986 in Mexiko, als er sein Land auf den Thron beförderte. Im Viertelfinale tanzte er von der Mittellinie aus an sechs Engländern vorbei und vollendete zum Tor des Jahrhunderts. Er wurde dann auch FIFA-Fußballer des Jahrhunderts, zusammen mit Pele. Eine Expertenjury kürte den Brasilianer, eine Internetjury den Argentinier. Den unsinnigen Gelehrtenkrieg, wer der Bessere von beiden war, hat der brasilianische Weltmeistertrainer Carlos Alberto Parreira später mit der Frage abgewürgt: „Wer war besser – Monet oder van Gogh?“

Weißt Du was, schreib, was Du willst.

Aber bald ging es dann los mit den schlechteren Nachrichten. Eines Tages behandelte Hector Pezzella, der Leiter der Klinik „Güemes“ in Buenos Aires, seinen mit unklaren Symptomen eingelieferten Landsmann und ließ sich mit der verwirrenden Diagnose zitieren: „Ich glaube, Maradona hält sich für einen Gott.“

Waren das die Spätfolgen jenes sagenhaften WM-Spiels anno `86 gegen England? Denn noch ein zweites legendäres Tor hatte Maradona an dem Tag erzielt, unfair, irregulär, mit der nackten Faust. „Das war die Hand Gottes“, behauptete er nach dem Abpfiff. Hielt sich Maradona womöglich sogar für den verlängerten Arm des Allmächtigen? Oder für Gott höchstselbst?

Was Besseres kriegen wir heute nicht mehr.

Seine Jünger, seine Anbeter, haben ihn in diesem Glauben bestärkt. Sie gründeten für ihren Heiligen eine eigene Kirche, die „Iglesia Maradoniana“, wobei sie nicht „Dios“ schrieben, also das spanische Wort für Gott, sondern „D+10+S“ – die „10“ stand für Maradonas biblische Rückennummer. Regelmäßig trafen sich seine bekennenden Fans an seinen Geburtstagen, verehrten ihn andächtig und verkauften als seine Apostel T-Shirts, auf denen stand: „Ich habe Gott gesehen.“ Solche Huldigungen halten auf Dauer nur
die ganz Starken aus. Maradona bekam sie irgendwann nicht mehr auf die Reihe – und seine falschen Freunde, die ihn mit Drogen versorgten, besorgten den Rest.

Mit Mitte 30 begann er dann erstmals vom Sterben zu reden. Bei der WM 1994 war er, der gekrönte König, beim Doping erwischt worden. Er gab bekannt, daß er sich nur wegen seiner Töchter nicht umbringe, und einmal sagte er im Fernsehen: „Viele wollten mich immer tot sehen – ich bin tot.“ Wie ernst es war, begriff die Welt dann spätestens aufgrund folgender Bilder: Ein kleiner, dicker Star federt zur Talkshow beschwingt ins TV-Studio, tanzt Tango mit einer Schönheitskönigin namens Cecilia – und bricht zusammen. Anschließend sieht man ihn wieder im Rollstuhl im Krankenhaus, und die medizinische Fachwelt tuschelt über „irreparable Defekte“, weist auf die Zerstörung von Gehirnzellen aufgrund übermäßigen Kokaingenusses hin und sieht den Star psychisch zerfallen.

Depressionen, Aggressionen, Verfolgungswahn, Suizidgefahr. Zur Wiederbelebung hat man Maradona dann in die Schweiz geschickt, in eine Klinik am Bieler See, zur Bekämpfung seiner Drogensucht, und auf dem Höhepunkt der Therapie verlangte der Professor von ihm: „Ich will, daß Du bei der WM 1998 nochmal groß aufspielst.“ Maradona nickte. Doch kurz darauf streckte er einem Stadionordner in England mittels heruntergelassener Hose seine vier Buchstaben ins Gesicht, und im spanischen Alicante zertrümmerte er im Hotel zwei Türen, einen Tisch und fünf Sessel. Ein Herzinfarkt folgte, da war er 43. Und noch ehe er 50 war, stocherte er mit der Stange derart im Nebel seines Lebens, dass ein psychiatrisch bewanderter Betrachter berichtete: „In einem Hospital hielt sich einer für Einstein und ein anderer für Newton, und als Maradona sagte, er sei Maradona, wurde gelacht.“

Mit allen Mitteln hat Maradona zeitweise versucht, sich im tödlichen Kreislauf zwischen Genie und Wahnsinn zu vernichten. Seine Leber war angegriffen, und erschwerend hinzu kam seine auf 140 Kilo angeschwollene Leibesfülle. Als „Maratonna“ machte er Schlagzeilen, und in höchster Not wurde ihm der Magen halbiert. Anschließend begab er sich ins vorübergehende Exil nach Kuba, ließ sich von Fidel Castro eine Revolutionsmütze schenken, und am Ende hieß die kürzeste aller Überschriften: „Er spinnt.“

Aber er lebte. „Der Bärtige“, sagte Maradona, „rettet mich immer.“ Er meinte nicht den Bärtigen in Kuba, sondern den ihm Himmel, der ihm noch einmal seine Hand lieh: Maradona stand tatsächlich von den Toten auf – und wurde Nationaltrainer.

Vor allem jene Journalisten, auf die Maradona gelegentlich mit dem Luftgewehr geschossen hatte, zeigten sich zunächst skeptisch. Früher, lästerten sie, hatte Diego zaubernd den Ball am Fuß, aber als Trainer hat er ein Brett vor dem Kopf. Er hat es ihnen dann genial heimgezahlt, oder besser: genital. Nach der erfolgreichen Qualifikation für die WM 2010 bot er den Reportern in der Pressekonferenz an: „Und jetzt könnt Ihr mir alle einen bla…“ – und blies ihnen den Marsch. „Weißt Du was, schreib, was Du willst.“

Bei der WM in Südafrika lief dann zunächst alles ganz gut. Und wenn Maradona auftrumpfte, blieb kein Auge trocken, ich habe es im Stadion „Soccer City“ in Johannesburg miterlebt. 3:1 hatten seine Gauchos die Mexikaner gerade besiegt, da dachte ein argentinischer Kollege in der Pressekonferenz schon einen Schritt weiter – und fragte Maradona nach dem nächsten Gegner im Viertelfinale, den Deutschen. „No, no, no“, brummte der missmutig, „heute reden wir über unseren Sieg und morgen über Deutschland.“

Die Reporter bohrten weiter.

Habt Ihr es nicht gehört, ich sage nichts über Deutschland!

Nur ein Wort, Diego, bettelte einer …

„Weißt Du was“, ging Maradona darauf in die Luft, „schreib, was Du willst.“ Und dann hat er sich wieder seine dicke, dampfende Havanna reichen lassen, die ihm einer seiner Handlanger warm gehalten hatte, während der Meister sprach.

Maradona stand unter Dampf. Er war nocheinmal El Diego, der Große. Jeden Tag war er als stolzer Gockel in aller Munde, mit seinen Diamanten im Ohr und dem um die Finger gewickelten Rosenkranz zog er magnetisch jede Kamera an, jeder Schritt, jeder Wimpernschlag wurde live übertragen – und Maradona versprach, dass er im Fall des WM-Siegs nackt durch Buenos Aires laufen würde. Dann machte es patsch. 0:4 gegen Deutschland. Aus.

Diego Maradona, der einstmals Vergötterte, wurde fortan immer öfter bedauert und verspottet. Er tat eigenartige Dinge, freundete sich (wie früher mit Ghadafi in Lybien) weiter mit fragwürdigen Staatsführern an, stieg im Wahlkampf in Venezuela für Chavez und später für Maduro („Ich bin sein Soldat“) auf die Bühne, und bittere Worte machten nun häufig über ihn die Runde, von vollgeknallt bis durchgeknallt. Der WM-Auftritt in St. Petersburg passte dazu. Kurz danach ließ er sich in Weißrussland durch ein Stadion kutschieren und gab bekannt: „Ich bin jetzt Präsident des Klubs Dinamo Brest.“ Was er dort kurz tat, ist nie genau bekannt geworden, aber es soll immerhin der beste Vertrag seines Lebens gewesen sein. Am Ende haben auch noch ein Scheich in Dubai, ein mexikanischer Zweitligist und ein Klub in Buenos Aires gutes Geld bezahlt, um sich mit dem alten Weltstar schmücken zu dürfen, der alles konnte, solange er einen Ball am Fuß hatte.

Das Schlusswort soll Ryan Giggs gehören. Der Waliser, der früher bei Manchester United elegant dribbelte, war verglichen mit dem Argentinier nur ein kleines Licht – aber er wusste, wovon er sprach, als er sagte: „Heute gibt es Lionel Messi oder Cristiano Ronaldo. Aber ich habe von Diego Maradona Dinge gesehen, die ich in der Geschichte des Fußballs von keinem anderen sah.“

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Jogi Löw: „Man wird mich mit Fußtritten aus dem Fußball jagen müssen“

Jogi Löw: „Man wird mich mit Fußtritten aus dem Fußball jagen müssen“

Nach Donald Trump sträubt sich auch Jogi Löw gegen eine Amtsübergabe. Der Bundestrainer erkennt das 0:6 gegen Spanien offenbar nicht an, verlangt eine Neuauszählung der Tore – und geht damit ins Risiko wie einst Giovanni Trapattoni.

Im Weißen Haus in Washington spielt sich zur Zeit eine bühnenreife Tragödie ab, und das Theater spitzt sich Tag für Tag zu. Denn Donald Trump will nicht gehen. „Nur über meine Leiche“, hat sich der US-Präsident geschworen und weigert sich, die Schlüssel herauszurücken, er sträubt sich gegen die Amtsübergabe und verschanzt sich im Oval Office angeblich hinter Sandsäcken – nach Lage der Dinge wird ein FBI-Räumkommando das Gebäude stürmen und Trump mit Waffengewalt hinaustragen müssen.

Warum erzählen wir die Geschichte?

Weil sie verblüffend einer anderen ähnelt, die in diesem tristen Herbst nun schon seit Wochen den deutschen Fußball erschüttert. Auch Jogi Löw, unser Bundestrainer, will partout nicht weichen, sperrig stellt er sich quer. Dabei hat ihn das Volk abgewählt wie die Amerikaner ihren Präsidenten, nur viel deutlicher. Denn anlässlich repräsentativer Umfragen rümpfen cirka acht von zehn Deutschen unter den Nachwirkungen des WM-Flops 2018 und vor allem des unerträglichen 0:6 gegen die Spanier die Nase und finden, dass es Löw jetzt so langsam gut sein lassen sollte.

Fake News, kontert der Bundestrainer. Jedenfalls hat er alle Abstimmungen derart ungerührt zum einen Ohr hinein- und zum anderen wieder hinausgelassen, dass eine lästerliche Spottgosche in Bezug auf das 0:6 in Sevilla die Meldung durchs Internet jagte: „Jogi Löw erkennt die Niederlage nicht an und fordert eine Neuauszählung der Tore.“ An eine Amtsübergabe sei noch lange nicht zu denken.

Obwohl diese Geschichte zweifellos erstunken und erlogen ist, also höchstens ein billliger Scherz zum Mitlachen, bestätigt sie doch einen galoppierenden Trend: Kein Mächtiger räumt heutzutage noch freiwillig das Feld. In Sport, Show und Politik gilt zusehends die alte Devise von Giovanni Trapattoni: „Man wird mich einmal mit Fußtritten aus dem Fußball jagen müssen.“

Muss Joachim Löw am Ende in Handschellen und einer Zwangsjacke abgeführt werden? Im Moment trotzt er noch eisern der erdrückenden Ablehnung und schüttelt alle Spötter ab wie lästige Stubenfliegen. Feinsinnige Kritiker werfen dem Bundestrainer vor, dass er nicht auf den großen Schiller hört, der in der Blüte seines Wirkens gedichtet hat: „Ein guter Abgang ziert die Übung.“ Aber damals ging es nur ums Turnen.

Jetzt geht es um Fußball.

Es soll beim Deutschen Fußball-Bund zwar schon gelegentlich den einen oder anderen aufmüpfigen Löw-Hinterfrager gegeben haben, aber die Antworten gibt, wann immer es brenzlig wird, entweder Löw selbst, oder Oliver Bierhoff. Unvergessen bleibt, wie der Manager der Nationalmannschaft nach der WM-Blamage 2018 auf den Tisch drosch und verlangte: „Wir müssen intern knallhart diskutieren.“ Jogi Löw hat dazu spontan genickt, im Rahmen intensiver Schwarzwaldbegehungen danach acht Wochen lang mit sich selbst diskutiert und herausgefunden, dass er der Richtige ist für den Neuaufbau. Dieser Umbruch nimmt jetzt einen Umweg über den kompletten Zusammenbruch, also hat Bierhoff auch nach dem 0:6 gegen die Spanier sofort wieder geistesgegenwärtig gefordert: „Wir müssen knallhart analysieren.“ Erneut hat daraufhin der Jogi die vorliegenden Fakten mit dem Löw wieder schonungslos durchdebattiert – und knallhart auch diesmal weitergemacht, ohne Angst vor den Prügeln des Fußballvolks.

Ist die Angst vor dem Abschied noch größer?

Jeder Abschied ist ein kleiner Tod. Viele kennen diese furchtbare Angst, nicht nur der Bundestrainer, sondern mindestens auch drei seiner früheren Weltmeister. Erinnern Sie sich an die Gesichter von Thomas Müller, Mats Hummels und Jerome Boateng, als Löw ihnen damals jäh eröffnete, dass es zwar lange schön war mit ihnen, aber keinen Sinn mehr macht? Hermann Hummels hat erzählt, dass sein Sohn ihn an jenem düsteren Tag verzweifelt anrief: „Ich fragte: Bist du verletzt? Und er sagte: Es ist schlimmer.“

Die Angst vor dem Aus geht immer einher mit grässlichen Gefühlen. Als Lothar Matthäus nach Unstimmigkeiten mit Bundestrainer Berti Vogts anno 1994 als Kapitän ausschied, schlief er anschließend furchtbar schlecht und schrieb verwirrende Tagebücher. Aber er ließ nicht locker, denn unbedingt wollte er seine Bilanz als Rekordnationalspieler ausbauen, und unter öffentlichem Druck durfte er bei der WM 1998 sein Comeback feiern.

Keiner hört gerne auf. Hat Uli Hoeneß je als Bayernboss aufgehört? Wenn er sein Machtwort für nötig hält, haut er es jedem nach wie vor um die Ohren und kanzelt geschwind den Abwehrspieler Alaba oder dessen Berater ab, ohne den Vorstandschef Rummenigge vorher groß zu fragen. Was hatten die Leute erwartet, dass Hoeneß nach seinem Abschied nur noch den Grüßgottonkel gibt und ansonsten mit seiner Susi im Faltboot über den Tegernsee dümpelt? Alle vergessen dabei, dass er als kickender Jungspund unter dem Bayern-Patriarchen Wilhelm Neudecker aufwuchs, der noch im hohen Alter drohte: „Wann ich aufhöre? Erst wenn ich ins Grab falle. Und dann mache ich noch zwei Jahre weiter.“

Kürzer treten mag ja noch halbwegs erträglich sein, aber abtreten? „Niemals“, hat Trude Herr einst gesungen, „geht man so ganz“.

Jogi Löw geht gar nicht.

Doch, einmal hat er wohl daran gedacht, allerdings nur kurz. In der Stunde Null, nach dem 0:2 gegen Südkorea bei der WM vor zwei Jahren, versprach er trostlos: „Ich habe die Verantwortung und stehe dazu.“ Sein nächster Satz hätte dann heißen können: „Ich trete zurück.“ Aber vermutlich hat ihn sofort die Frage gebremst: Wohin?

Wann ich aufhöre? Erst wenn ich ins Grab falle. Und dann mache ich noch zwei Jahre weiter

Was erwartet einen, der einen Traumjob aufgibt? Gibt es überhaupt noch ein Leben nach dem Rücktritt, oder hat man als Abgedankter höchstens noch die Qual der Wahl, ob man die Zeit totschlägt mit einer Kreuzfahrt nach Honolulu, dem Gassiführen seines Dobermanns oder sporadischen Experten-Auftritten im Sport-1-“Doppelpass“? Soll er als Ex-Bundestrainer für den Rest seines Lebens im Begleitzirkus des Fußballs als brüllender Löw durch brennende Reifen springen? Soll er sich die alten Filme von seinen Siegen reinziehen, auf dem Sofa, bei einem Gläschen Sherry? Da hält sich der Bundestrainer, was wir womöglich fast alle tun würden, dann doch lieber an die Boxerdevise „Aufrappeln, Mund abputzen, weiter.“

Wir Flachlandtiroler haben keinen blassen Schimmer, wie sich die Beneidenswerten da oben auf ihrem Gipfel fühlen, bei ihrem Schweben in luftigen Höhen. Das da droben, das ist Glück. Und keiner will absteigen und zurück ins Basilager des tiefen Tals.

Tom Brady hat es wunderbar erzählt. Der große US-Quarterback wurde vor zwei Jahren nach seinem letzten Superbowlsieg von einem Reporter gefragt, warum er mit 41 immer noch nicht aufhört. Brady deutete auf das ekstatisch jubelnde Publikum und schrie dem anderen die Antwort ins Gesicht: „Warum? Ja, schau Dir das doch an!“ Adrenalinausstoß, pur. Wo kriegt er das sonst nochmal im Leben?

Ein Abschied ist nicht sexy, deshalb spielt Brady immer noch, und gewinnt immer noch. Und deshalb will auch Donald Trump alles, bloß nicht aufhören. Und auch Jogi Löw hat sich angewöhnt, alle Rückschläge auszusitzen. Oder geht er doch noch in sich? Unbeugsame Optimisten klammern sich mutig an ihren Traum, dass der Bundestrainer sich demnächst nochmal acht Wochen zum Grübeln in den Schwarzwald zurückzieht, dann aber mannhaft vor eine Kamera steht und sagt: Ich bin jetzt doch zur Besinnung
gekommen.

Viele würden ihm spontan applaudieren, vermutlich auch Günter Netzer. Der hat einmal aus seiner grandiosen Zeit als Ballverteiler bei Real Madrid erzählt und traurig geschildert, dass das zähe Durchhalten für ein paar der dortigen Altstars nicht gut ausging: „Am Ende hat man sie mit dem Lasso vom Platz holen müssen.“

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