WM in England 1966: „Ich habe die Beleidigung an seinem Gesichtsausdruck abgelesen“
Rudolf Kreitlein wurde bei der WM 1966 als „tapferes Schneiderlein“ berühmt. Er wollte den Argentinier Rattin vom Platz stellen, aber der stellte sich dumm und ging einfach nicht. Aus Notwehr wurde Kreitlein zum Revolutionär – und erfand tags darauf die gelbe und rote Karte.
Auf die Risiken einer Fußball-WM muss man sich als Journalist gewissenhaft vorbereiten. Deshalb war ich vor dem Abflug nach Südafrika jetzt noch schnell beim Doktor, um mich gegen Seuchen impfen zu lassen, aber auch im Stuttgarter Theaterhaus, um mich gegen Schiedsrichter impfen zu lassen.
„Schiedsrichter Fertig“ heißt das Stück, das dort zurzeit läuft. Thomas Brussig hat es geschrieben, und es ist ein wunderbares, aber fast tragikkomisches und trauriges Stück – über arme Kerle, die hin und her rennen, kein Tor schießen dürfen und keinen Beifall erhalten.
Auf der zu einer Umkleidekabine umdekorierten Bühne schlüpfen drei Schauspieler in die Haut von Schiedsrichter Uwe Fertig und seiner zwei Linienrichter. Kurz vor dem Anpfiff zetern sie miteinander über ihr unmenschliches Los, da draußen gleich wieder als Pfeifen im Regen zu stehen und an die Wand gestellt zu werden als schwarze Sau, sie zerreißen sich das Maul über die Spitzbuben und Schwalbenkönige, von denen sie schamlos hereingelegt werden – also kurz gesagt zeigen sie uns, wie man sich als Schiedsrichter vor dem Anpfiff dafür in Stimmung bringt, von achtzigtausend ausgepfiffen, angepöbelt, beschimpft, bebrüllt, beleidigt, bedroht und auf alle erdenkliche Arten massakriert zu werden.
Warum sie es trotzdem tun?
Bei der Antwort klopft sich Uwe Fertig mit einem fiesen Rächerblick brüllend auf die Schenkel: Als schlauer Schiedsrichter kann man trotzdem unsterblich werden – es genügt schon ein fragwürdiger Pfiff, mit denen man die Fußballwelt auf die Palme bringt.
Die lebenden Beweise für diese Pointe des Bühnenstücks begegnen einem fast täglich. In verblüffender Regelmäßigkeit, die kein Zufall mehr sein kann, führen pfiffige Schiedsrichter die berühmtesten Fußballstars der Welt wie Tanzbären am Nasenring derart durch die Manege, dass ich hier spontan den derben Scherz vom Teufel erzählen muss. Der fragt Petrus am Telefon, ob er sich nicht eines fernen Tages einmal ein packendes Fußballspiel Himmel gegen Hölle vorstellen könne, worauf Petrus ihn warnt: „Gerne, aber Ihr werdet chancenlos sein, denn für uns spielen dann alle Götter, Pele, Maradona, Beckenbauer…“
„Aber wir“, unterbricht ihn feixend der Teufel, „haben die Schiedsrichter.“
Wahr ist auf jeden Fall eines: Besonders selbstbewusste Schiedsrichter, die etwas auf sich halten, weisen an ausgesuchten Tagen nach, dass sie für ein erfülltes Leben ein gewisses Gefühl für die Macht unbedingt brauchen, vor allem in Form des Zückens gelber und roter Pappendeckel, mit denen sie ungestraft die höchstbezahltesten Millionäre in kurzen Hosen stramm stehen lassen.
Womit wir endlich zum Thema kommen: Wer hat diese Karten erfunden?
Für die Antwort darauf muss man, wenn man vom Stuttgarter Theaterhaus am Pragsattel kommt, nicht mehr weit fahren. Runter in die Stadt und dann hoch nach Degerloch, dort lebt der Gesuchte als Kultfigur: Rudolf Kreitlein.
Ich habe einmal neugierig bei ihm an der Tür geklingelt, und er ließ mich in seine dicken Ordner schauen, in die er die Zeitungsartikel vom wichtigsten Tag seines Lebens hineingeklebt hat. Bis dahin war er nur ein kleiner Schneidermeister, aber mit einem einzigen Pfiff ist er bei der WM 1966 dann über Nacht als „tapferes Schneiderlein“ weltberühmt geworden. „Auch meine Schiedsrichterkluft war selbstgemacht“, hat mir Kreitlein erzählt – und anschließend die Geschichte mit Rattin.
Im Viertelfinale war das. In Wembley traf England auf Argentinien, und irgendwann hat Antonio Rattin, der Kapitän der Gauchos, den deutschen Schiedrichter von oben herab angeschaut. Rattin war ein Riese, und Kreitlein nur ein laufender Meter, aber dafür saß er am längeren Hebel. Weil die beiden sich aufgrund weltsprachlicher Mängel zu einer verbalen Klärung der heiklen Situation nicht in der Lage sahen, hat Kreitlein in der Not „an Rattins Gesichtsausdruck abgelesen“, dass der ihn beleidigt hatte – und „mit der Gestik eines Burgschauspielers“, notierte später ein Augenzeuge, versuchte der kleine Mutige den Pampariesen des Feldes zu verweisen, in Form fuchtelnder Bewegungen des Armes und flankiert vom gezückten Zeigefinger. Aber Rattin ließ sich nicht verscheuchen. Nix verstehen, deutete er an, nur Bahnhof. Erst nach siebenminütigen Tumulten gelang es bewaffneten Londoner Bobbies schließlich, den verständnislosen Argentinier abzuführen.
„Wir müssen etwas finden, damit Spieler und Zuschauer unsere Entscheidungen besser verstehen“, hat Kreitlein hinterher zum englischen FIFA-Schiedsrichterchef Ken Aston gesagt, der ihn schon während der Rudelbildung auf dem Platz unter vollem Einsatz seines imposanten Körpers vor dem Schlimmsten bewahrt hatte. Der Sage nach musste Aston dann am selben Abend bei der Heimfahrt durch London an einer Ampel halten, schlagartig durchfuhr ihn der gelbrote Geistesblitz, und anderntags war für Aston und Kreitlein klar: Verwarnungskarten müssen her. So wird nun seither wie der Verkehr auch der Fußball geregelt.
Als tapferes Schneiderlein und wegweisender Gelbrot-Pionier ist Kreitlein letztes Jahr zu seinem neunzigsten Geburtstag vom Bundespräsidenten ins Schloss Bellevue eingeladen worden, zum Abendessen und zur feierlichen Entgegennahme des Bundesverdienstkreuzes. In dessen Genuss kommen normalerweise nur handverlesene Deutsche, aber in seltenen Fällen kriegt es auch einmal ein schwäbischer Tüftler, der mit einer genialen Erfindung verhindert hat, dass der Fußball an seinen Missverständnissen und Tumulten auf dem Platz zugrunde geht.