Verletzungen im Fußball: „Khedira führt, knapp vor Ihnen“
Der Knall ist kurz. Es macht plopp und peng, die Achillessehne ist durch, der WM-Traum hängt plötzlich in der Luft wie der Wadenmuskel – und unversehens gerät man als Journalist in einen Wettlauf mit drei Fußballstars, die Weltmeister werden wollen.
Die folgende Kolumne ist aus medizinischer Sicht lebensgefährlich – sie kann zu einer Thrombose führen.
Doc Frölich macht sich jedenfalls große Sorgen. Alle paar Tage legt er die Stirn in Runzeln, mustert streng den geschwollenen Fuß mit der rötlich schimmernden Wunde und fragt sich, ob ich mich an seine heilsamen Verordnungen wirklich halte. “Geben Sie sich”, will er wissen, “immer pünktlich die Spritze?”
“Jeden Abend”, nicke ich, “mal rechts vom Nabel, mal links.”
“Nehmen Sie die Tablette?”
“Vorschriftsmäßig”, schwöre ich.
“Und das Bein”, bohrt er weiter, “legen Sie es immer schön hoch?”
“Ja”, lüge ich.
Zur Grundstellung eines Journalisten gehört es, beim Schreiben den Fuß unter dem Tisch zu haben, aber mein Doktor will unbedingt, dass ich ihn auf den Tisch lege und meine Kolumnen in den kommenden Wochen mit gestrecktem Bein formuliere. Wenn beim Fußball einer mit dem gestreckten Bein daherkommt, zieht der Schiedsrichter aus der Hose sofort die Arschkarte: glatt Rot. Doch Dr. Thomas Frölich denkt anders. Rein in einen Sessel, befiehlt er mir, Laptop auf den Bauch, ein paar dicke Kissen auf einen Schemel und das malade Bein drauf, und zwar so, dass der Fuß auf Herzhöhe liegt. Wenn ich dann zaghaft einwende, dass keine Kolumne solche Verrenkungen aushält und ich mir vorkomme wie ein Einarmiger beim Einwurf, sagt er nur: “Wollen Sie nun zur WM – oder nicht?”
Alles ist gebucht. Sepp Blatter hat meine Anwesenheit in Brasilien amtlich genehmigt, der Flug ist am 7. Juni, meine Hacienda beim DFB-Hotel „Campo Bahia“ in Santo Andre gleich um die Ecke, und Jogi Löws Zauberer legen größten Wert darauf, dass ich komme, denn bei meinen neun WM-Teilnahmen sind wir zweimal Weltmeister, zweimal Vizeweltmeister und zweimal Dritter geworden. Und ausgerechnet jetzt dieser herbe Rückschlag. Ich leide wie Michael Ballack, der vor der WM vor vier Jahren in Südafrika in Gips gelegt wurde, oder wie Sami Khedira jetzt nach seinem Kreuzbandriss.
Man sollte kurz vor einer Fußball-WM als Journalist nicht mehr Tennis spielen und schon gar nicht mit einem pfeilschnellen Schritt nach links zu einer spektakulären Rückhandpeitsche ansetzen. Plopp hat es gemacht, einfach plopp. Vielleicht war es auch ein Peng, jedenfalls war es ein jäher Knall, und dank der Gnade der frühen Geburt wusste mir sofort klar: Genau so war es auch bei Uwe, am 20. Februar 1965, Waldstadion, Eintracht gegen den HSV, 56. Spielminute. Anderntags, frisch operiert, sagte Uwe Seeler: “Ich dachte, da unten hat mich ein Elefant getreten.”
So ein Achillessehnenriss kann einen Ochsen töten, ich schwöre es. Man fällt um wie erschlagen, spürt zunächst einen ekligen Schmerz, sehnt sich nach der Vollnarkose, das Bein hat keine Kontrolle mehr, der Wadenmuskel hängt haltlos im Nichts, und das auch noch in Amerika. Hinkend habe ich mir eine Mullbinde und einen Stützstrumpf besorgt, mich auf den Flughafen in Miami geschleppt und nach der Landung in Echterdingen direkt weiter in die Praxis zu Doc Frölich, dem früheren VfB-Meisterarzt. Seine Diagnose nach der Kernspintomografie, kurz und verletzend: “Abriss.”
Kobe Bryant, der Basketballkönig, kämpft mit einem solchen seit Monaten. Auch Rosi Mittermaier, erzählt der Doc, hat es einmal erwischt, beim Slalom, trotz des dicken Skistiefels. “Mich übrigens auch”, sagt er und zeigt mir die Narbe. Es trifft offenbar nur die Besten, und man ist fast froh, dazugehören zu dürfen. Er hat mich dann also operiert, und es gibt nichts Schöneres, als hinterher wieder aufzuwachen – in der Hoffnung, dass es einem ergeht wie Seeler, der über sein damaliges Krankenzimmer noch heute schwärmt: “Überall standen Blumen. Auch die Briefe, die gekommen sind, waren herzzerreißend“.
Uwe war schon ein halbes Jahr später wieder fast der Alte und hat, obwohl ein Achillessehnenriss zu der Zeit noch als sicherer Karriereabschluss galt, die deutsche Mannschaft mit einem Spezialschuh zum 2:1 gegen Schweden und zur WM 1966 geschossen.
“Disziplin ist alles”, trichtert Doc Frölich mir nun Tag für Tag ein und motiviert mich stets mit dem Hinweis auf Sami Khedira, der mit seinem Knie neulich wieder bei ihm im VfB-Rehazentrum vorbeigeschaut hat. Außerdem betreut er Hoffenheims belgischen Torwart Koen Casteels, dessen WM-Träume plötzlich bedroht sind durch einen Schienbeinbruch, und vor ein paar Tagen ist auch Dimitri Tarasow von Lok Moskau wieder zu ihm hergeflogen. Kreuzbandriss. Frölich, als heilender Hexer bis in Putins Reich bekannt, soll auch dem Russen die WM retten.
„Wer von uns“, frage ich ihn zitternd, „hat die besten Karten?“
Doc Frölich zermartert sich kurz das Hirn, grübelt, wägt ab und sagt dann: “Khedira, knapp vor Ihnen.”
Und ich dachte schon, meine Chance sei kleiner als die einer Sau beim Metzger. Aber das ist der Vorteil eines Kolumnisten: Er muss in einem Spiel nicht zwölf Kilometer rennen, sondern nur zwölf Kilometer sitzen.