Philipp Lahm: „Hör jetzt gut zu, Felix, ich hab Dir da einen“

Philipp Lahm: „Hör jetzt gut zu, Felix, ich hab Dir da einen“

Philipp Lahm ist als Turnierdirektor der EM 2024 nirgends so herzlich willkommen wie in Stuttgart. Unter allen Beute-Schwaben ist der Bayer der Berühmteste: Womöglich hätte seine Karriere als Weltstar ohne den VfB nie begonnen – genauer gesagt: ohne diesen Telefonanruf im Mai 2003.

Im Mai 2003 griff Hermann Gerland aufgeregt zum Telefon. Viel hat nicht gefehlt, und er hätte die „911“ angerufen.

Jedenfalls war es ein Notruf.

Gerland trainierte seinerzeit die zweite Mannschaft des FC Bayern, und das Schicksal eines seiner Spieler brachte ihn schier um den Schlaf. Der junge Mann war neunzehn, die Bayern trauten ihm den großen Sprung noch nicht zu, aber Gerland spürte: „Es wäre eine Schande gewesen, wenn er weiter in der Regionalliga hätte spielen müssen.“

Zur Klarstellung: Gerland war keiner, der ein Talent vorschnell mit den höheren Weihen verwöhnte. Grundsätzlich war er eher ein skeptischer Grantler, einmal entfuhr ihm sogar der Satz: „Von den heutigen Profis traut sich im Dunkeln keiner mehr auf die Straße.“

Aber dieser Neunzehnjährige war anders. Das war einer wie er, und wie der Bundesligaverteidiger Gerland früher war, beschreibt der Extorjäger Jupp Heynckes in der Erinnerung mit Grausen: „Die offenen Wunder am Schienbein habe ich immer noch.“ Man nannte Gerland den „Tiger“, er war bissig und hungrig – und als er als Trainer jetzt sah, dass dieser Neunzehnjährige darüber hinaus auch noch richtig Fußball spielen konnte, bot er ihn quer durch die Bundesliga an. Er holte sich von den vielen Absagen fast ein wundes Ohr – bis er an Felix Magath geriet, der damals den VfB trainierte.

„Hör jetzt gut zu, Felix“, sagte Gerland, „ich hab Dir da einen.“

Magath wusste: Der Tiger lügt mich nicht an. Sie tickten auf einer Wellenlänge, sie liebten beide den Medizinball als Trainingsinstrument, und als Gerland erzählte, dass der junge Mann auch noch einen starken Charakter hat, vergaß Magath den bettelarmen Zustand des VfB und ging mit dem Hut sammeln, um die cirka 100 000 Euro Leihgebühr zusammenzukratzen. So fing im Sommer 2003 die Karriere des Philipp Lahm an.

Die Folgen sind bekannt: Bester Verteidiger der Welt, Weltmeister, Klub-Weltmeister, Champions-League-Sieger, achtmal Deutscher Meister, sechsmal DFB-Pokalsieger, Fußballer des Jahres, Kapitän der Nationalmannschaft, 113 Länderspiele, 385 Bundesligaspiele. Andere sind jedes Jahr ein paar Wochen lang Klasse, aber Lahm war Woche für Woche Klasse, Spiel für Spiel. Hinten war er ein Wadenbeißer und weiter vorne ein Virtuose am Ball, er war Verteidiger und Außenstürmer, und die Kalklinie hat gestaubt, wenn er sich beim Auf und Ab da draußen am Flügel ständig unterwegs selbst begegnete.

„Er ist der intelligenteste Spieler, den ich je trainiert habe“, behauptet Pep Guardiola, und der Spanier hat immerhin Lionel Messi trainiert – dass er den späten Lahm beim FC Bayern dann auch noch zum Spielaufbauer im zentralen Mittelfeld machte, war vollends der Ritterschlag.

Lahm zieht auch heute noch die Fäden, inzwischen als Turnierdirektor der EM 2024. „Wir wollen“, sagt er, „ein Fest veranstalten, das einen Aha-Effekt hat.“ Das WM-Sommermärchen von 2006 will er wiederholen, und um das Wir-Gefühl und den gesellschaftlichen Zusammenhalt wiederzubeleben, krempelt er wie seinerzeit die Ärmel hoch, spuckt in die Hände und ruft in Richtung Nationalmannschaft: „Es muss wieder in die Köpfe der Spieler, dass sie ihr Land vertreten und als verschworene Einheit auftreten.“ Das hat er in den letzten Jahren vermisst – „dass sich einer für den anderen auf dem Platz aufopfert.“

Voller Wehmut erinnern sich an Philipp Lahm alle Fußballdeutschen – und voller Wehklagen seine Gegenspieler.

Fragen Sie Nuno Capucho. Der Portugiese befand sich bei den Glasgow Rangers in der Blüte seines Stürmerlebens, als er auf den jungen VfB-Lahm traf. In der Champions League war das, früh im neuen Jahrtausend, und für Capucho wurde der Abend zum Albtraum. Da hatte er jahrelang die besten Verteidiger der Welt vernascht, sie schwindlig gedribbelt, sie gemütskrank gespielt, aber um Lahm kam er kein einziges Mal herum. Wenn Capucho ausholte, um aufs VfB-Tor zu schießen, war der Ball immer schon weg – und der kleine Lahm damit auf und davon.

In der üppigen VfB-Geschichte ist kein Rechtsfüßler urkundlich erwähnt, der an der linken Kalklinie mit dem falschen Bein auch nur annähernd so gut zu Fuß war wie Lahm. Erstaunlich war seine Ballsicherheit und Übersicht, selbst in höchster Bedrängnis brachte er die Kugel noch durch die hohle Gasse zum Nebenmann. Und wenn jeder gewettet hätte, dass Lahm gleich einen Haken nach innen schlägt, um mit rechts zu flanken, machte er stattdessen seinen Bauerntrick, wuselte außen vorbei bis zur Torauslinie – und alles mit links.

Auf der verkehrten Position musste Lahm anfangs noch spielen, aber im Kopf stimmte von vornherein alles. Einmal war er im ZDF-Sportstudio und erzählte, dass er nicht zu denen gehört, die einen Hofstaat aus Beratern beschäftigen. „Mir helfen“, sagte er, „zwei Freunde.“ Andere Jungstars ließen sich längst fernsteuern von Ratgebern aller Art, die ihnen beim Vertragspoker auch noch Schlechtwettergeld und ein beheizbares Trikot herausholten, aber Lahm war Lahm. Er entsprach nicht dem Klischee des verwöhnten Jungdotters unter den Weicheiern.

Kurz: Er war genau der Richtige für den VfB, der sich zu der Zeit nur angehende Weltmeister leisten konnte, die nichts kosten. Jedenfalls war er einer der Fälle, in denen der VfB die Fehler, die sich der FC Bayern in jedem Jahrzehnt einmal erlaubt, brutal ausnutzt. 1984 hießen diese Fehler Sigurvinsson und Niedermayer, und 1992 war es der kleine Kögl, der als Trickerl-Wiggerl alles schwindlig gekögelt und am Ende der Saison den Ball noch an die Birne von Buchwald gezirkelt hat – und, batsch, war der VfB wieder Deutscher Meister.

Diesmal also Lahm. Zwei Jahre war er da, ehe die Bayern ihren Fehler rückgängig machten. Meister ist der VfB zwar nicht ganz geworden, aber für Champions League-Feste hat es gereicht, und der Hochbegabte startete senkrecht durch, vorbei an allen Bedenkenträgern und Zweiflern, oder sagen wir es mit Gerland: „Für einige war er zu leicht.“

Und der Längste war Lahm ja auch nicht. Es war später immer wieder ein witziges Bild, wenn die Fernsehkamera bei der Nationalhymne plötzlich vom Torwart Neuer mit einem ruckartigen Schwenk zwei Köpfe tiefer ging, hinunter zum DFB-Kapitän Lahm, der dort mit Hingabe sein „Blüh im Glanze dieses Glückes, blühe, deutsches Vaterland“ vor sich hingeschmetterte.

Die Kleinen haben, so dicht über der Grasnarbe, kein leichtes Leben. Humphrey Bogart hat sich früher eine Sprudelkiste oder das Telefonbuch von New York unter die Füße schieben lassen, um in „Casablanca“ zu Ingrid Bergman sagen zu können: „Schau mir in die Augen, Kleines“. Und oft genug hört man fragwürdige Scherze. Kennen Sie den? Die deutschen Exweltmeister Hässler, Littbarski und Thon, alle um die Einssechzig, klettern auf einen Barhocker. „Drei Kurze“, sagt Litti. Darauf der Wirt: „Das sehe ich. Und was wollt ihr trinken?“

Die Kurzen rächen sich dann auf ihre Art: Als Charlie Chaplin, Woody Allen, Frank Sinatra und Dustin Hoffmann nicht mehr wuchsen, beschlossen sie, Weltstar zu werden. Und die Fußballer zeigen, dass in der Kürze die Würze steckt, indem sie Weltmeister werden, siehe Maradona, Messi und Lahm. Der hat sich, wenn es um die Wurst ging, die hohen Stollen unter die Stiefel geschraubt und ist über sich hinausgewachsen mit der Devise: Je kleiner der Kerl, desto größer der Ehrgeiz.

Philipp Lahm hat sich nie unterkriegen lassen. Er ist den gewaltigsten Riesen über den Kopf gewachsen und kann sich eines fernen Tages getrost in den Grabstein meißeln lassen: „Er war schmächtig, aber mächtig.“ Sein Zeuge ist Michael Ballack. Der war in der Nationalmannschaft jahrelang der hünenhafte „Capitano“, aber als er sich vor der WM 2010 verletzte und im Gipskorsett lag, war Lahm sofort bereit für die Machtergreifung, Viele dachten spontan an den einstigen Nationallinksaußen Dieter Eckstein, der beim 1. FC Nürnberg unter drei cirka einsfünfundsechzig großen Präsidenten gespielt hatte und fortan behauptete: „Die Kurzen mit den hohen Absätzen sind gefährlich.“

Lahm hat sogar Kopfballtore gemacht, ohne vorher weinerlich nach einem Schemel zu rufen, er hatte diesen eisernen Willen. „Im Schnitt schieße ich bei der Nationalmannschaft etwa alle zwei Jahre ein Tor“, hat er einmal glaubhaft erzählt, aber bei der WM 2006 schoss er im Eröffnungsspiel dann gleich das erste. Endstand: 4:2 gegen Costa Rica. Lahms traumhafter Schlenzer, hoch ins Eck, war der Startschuss ins anschließende Sommermärchen.

In Stuttgart, seinem Geburtsort als Fußballstar, ist das glorreiche Turnier damals passender Weise zu Ende gegangen, erst im Hotel Graf Zeppelin und dann im Stadion. „Es gab während der WM 2006 viele unglaublich schöne Erlebnisse“, erinnert er sich in stillen Stunden, „am beeindruckendsten aber war, als wir zum Spiel um Platz drei nach Stuttgart gekommen sind.“ Eigentlich war die Luft raus. Unglücklich hatte das DFB-Team das Halbfinale gegen Italien verloren, und jeder Versuch der nochmaligen Motivation war so gut wie aussichtslos.

„Und dann“, hat Lahm den Schlüsselmoment später der „ZEIT“ detailliert geschildert, „kommen wir nach Stuttgart. Ich glaube, unser Bus hatte zwei Stunden Verspätung. Es gab einen Platzregen, es hat geschüttet ohne Ende und trotzdem haben, ich tippe mal, 15 000 Fans vor unserem Hotel gewartet und uns zugejubelt. Das war ein unglaubliches Gefühl. Unten wurden die Straßen abgesperrt. Wir waren dann abends um zehn Uhr oben bei den Physiotherapeuten, und die Leute haben draußen immer noch bis in die Nacht hinein gesungen. Das war Wahnsinn. Das hat uns nochmal die Motivation gegeben, so ein gutes Spiel um Platz drei hinzulegen.“

3:1 gegen Portugal. Auch Cristiano Ronaldo fand keine Antwort, der angehende Superstar fühlte sich bitter erinnert an den 1. Oktober 2003. Sein erstes Champions-League-Spiel hatte der Portugiese an jenem Abend gemacht, im Dress von Manchester United gegen den VfB, und schon damals war er wie gelähmt ob der Anwesenheit von Lahm. Nur einmal wurde es eng, Lahm traf in höchster Rettungsnot den VfB-Pfosten, von dort sprang der Ball zu Ronaldo, der stürzte im Zweikampf mit VfB-Torwart Timo Hildebrandt, und Ruud van Nistelrooy verwandelte den Elfmeter zum 2:1. Dabei blieb es, in einem der größten Spiele in der Geschichte des VfB. „Heute war alles perfekt“, sagte Felix Magath – und wenn nicht erstunken und erlogen ist, was man hört, hat der Trainer sich in jener Nacht vor dem Spiegel selbst gegrüßt und beglückwünscht für seine weise Voraussicht in Sachen Lahm.

Philipp Lahm ist in Stuttgart jedenfalls immer herzlich willkommen, und wenn Not am Mann ist, greift der alte Beute-Schwabe dem VfB auch heute noch unter die Arme. 2022 hat ihn der VfB-Vorstandsvorsitzende Alexander Wehrle als Berater engagiert, und von wöchentlichen, virtuellen Sitzungen war die Rede, und dass Lahm seine „Erfahrung und Expertise“ (Wehrle) einbringt. Auf der Tribüne sah man Lahm eher selten, was aber zu verkraften war, denn er sieht mit dem Fernglas aus München mehr als andere, die in Stuttgart im Stadion sitzen. „Mit meiner Beratung“, versprach Lahm, „will ich dazu beitragen, dass der VfB wieder ein Verein ist, der viel öfter gewinnt als verliert.“

Jedenfalls ist der VfB danach nicht abgestiegen.

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WM in England 1966: „Ich habe die Beleidigung an seinem Gesichtsausdruck abgelesen“

WM in England 1966: „Ich habe die Beleidigung an seinem Gesichtsausdruck abgelesen“

Rudolf Kreitlein wurde bei der WM 1966 als „tapferes Schneiderlein“ berühmt. Er wollte den Argentinier Rattin vom Platz stellen, aber der stellte sich dumm und ging einfach nicht. Aus Notwehr wurde Kreitlein zum Revolutionär – und erfand tags darauf die gelbe und rote Karte.

Auf die Risiken einer Fußball-WM muss man sich als Journalist gewissenhaft vorbereiten. Deshalb war ich vor dem Abflug nach Südafrika jetzt noch schnell beim Doktor, um mich gegen Seuchen impfen zu lassen, aber auch im Stuttgarter Theaterhaus, um mich gegen Schiedsrichter impfen zu lassen.

„Schiedsrichter Fertig“ heißt das Stück, das dort zurzeit läuft. Thomas Brussig hat es geschrieben, und es ist ein wunderbares, aber fast tragikkomisches und trauriges Stück – über arme Kerle, die hin und her rennen, kein Tor schießen dürfen und keinen Beifall erhalten.

Auf der zu einer Umkleidekabine umdekorierten Bühne schlüpfen drei Schauspieler in die Haut von Schiedsrichter Uwe Fertig und seiner zwei Linienrichter. Kurz vor dem Anpfiff zetern sie miteinander über ihr unmenschliches Los, da draußen gleich wieder als Pfeifen im Regen zu stehen und an die Wand gestellt zu werden als schwarze Sau, sie zerreißen sich das Maul über die Spitzbuben und Schwalbenkönige, von denen sie schamlos hereingelegt werden – also kurz gesagt zeigen sie uns, wie man sich als Schiedsrichter vor dem Anpfiff dafür in Stimmung bringt, von achtzigtausend ausgepfiffen, angepöbelt, beschimpft, bebrüllt, beleidigt, bedroht und auf alle erdenkliche Arten massakriert zu werden.

Warum sie es trotzdem tun?

Bei der Antwort klopft sich Uwe Fertig mit einem fiesen Rächerblick brüllend auf die Schenkel: Als schlauer Schiedsrichter kann man trotzdem unsterblich werden – es genügt schon ein fragwürdiger Pfiff, mit denen man die Fußballwelt auf die Palme bringt.

Die lebenden Beweise für diese Pointe des Bühnenstücks begegnen einem fast täglich. In verblüffender Regelmäßigkeit, die kein Zufall mehr sein kann, führen pfiffige Schiedsrichter die berühmtesten Fußballstars der Welt wie Tanzbären am Nasenring derart durch die Manege, dass ich hier spontan den derben Scherz vom Teufel erzählen muss. Der fragt Petrus am Telefon, ob er sich nicht eines fernen Tages einmal ein packendes Fußballspiel Himmel gegen Hölle vorstellen könne, worauf Petrus ihn warnt: „Gerne, aber Ihr werdet chancenlos sein, denn für uns spielen dann alle Götter, Pele, Maradona, Beckenbauer…“

„Aber wir“, unterbricht ihn feixend der Teufel, „haben die Schiedsrichter.“

Wahr ist auf jeden Fall eines: Besonders selbstbewusste Schiedsrichter, die etwas auf sich halten, weisen an ausgesuchten Tagen nach, dass sie für ein erfülltes Leben ein gewisses Gefühl für die Macht unbedingt brauchen, vor allem in Form des Zückens gelber und roter Pappendeckel, mit denen sie ungestraft die höchstbezahltesten Millionäre in kurzen Hosen stramm stehen lassen.

Womit wir endlich zum Thema kommen: Wer hat diese Karten erfunden?

Für die Antwort darauf muss man, wenn man vom Stuttgarter Theaterhaus am Pragsattel kommt, nicht mehr weit fahren. Runter in die Stadt und dann hoch nach Degerloch, dort lebt der Gesuchte als Kultfigur: Rudolf Kreitlein.

Ich habe einmal neugierig bei ihm an der Tür geklingelt, und er ließ mich in seine dicken Ordner schauen, in die er die Zeitungsartikel vom wichtigsten Tag seines Lebens hineingeklebt hat. Bis dahin war er nur ein kleiner Schneidermeister, aber mit einem einzigen Pfiff ist er bei der WM 1966 dann über Nacht als „tapferes Schneiderlein“ weltberühmt geworden. „Auch meine Schiedsrichterkluft war selbstgemacht“, hat mir Kreitlein erzählt – und anschließend die Geschichte mit Rattin.

Im Viertelfinale war das. In Wembley traf England auf Argentinien, und irgendwann hat Antonio Rattin, der Kapitän der Gauchos, den deutschen Schiedrichter von oben herab angeschaut. Rattin war ein Riese, und Kreitlein nur ein laufender Meter, aber dafür saß er am längeren Hebel. Weil die beiden sich aufgrund weltsprachlicher Mängel zu einer verbalen Klärung der heiklen Situation nicht in der Lage sahen, hat Kreitlein in der Not „an Rattins Gesichtsausdruck abgelesen“, dass der ihn beleidigt hatte – und „mit der Gestik eines Burgschauspielers“, notierte später ein Augenzeuge, versuchte der kleine Mutige den Pampariesen des Feldes zu verweisen, in Form fuchtelnder Bewegungen des Armes und flankiert vom gezückten Zeigefinger. Aber Rattin ließ sich nicht verscheuchen. Nix verstehen, deutete er an, nur Bahnhof. Erst nach siebenminütigen Tumulten gelang es bewaffneten Londoner Bobbies schließlich, den verständnislosen Argentinier abzuführen.

„Wir müssen etwas finden, damit Spieler und Zuschauer unsere Entscheidungen besser verstehen“, hat Kreitlein hinterher zum englischen FIFA-Schiedsrichterchef Ken Aston gesagt, der ihn schon während der Rudelbildung auf dem Platz unter vollem Einsatz seines imposanten Körpers vor dem Schlimmsten bewahrt hatte. Der Sage nach musste Aston dann am selben Abend bei der Heimfahrt durch London an einer Ampel halten, schlagartig durchfuhr ihn der gelbrote Geistesblitz, und anderntags war für Aston und Kreitlein klar: Verwarnungskarten müssen her. So wird nun seither wie der Verkehr auch der Fußball geregelt.

Als tapferes Schneiderlein und wegweisender Gelbrot-Pionier ist Kreitlein letztes Jahr zu seinem neunzigsten Geburtstag vom Bundespräsidenten ins Schloss Bellevue eingeladen worden, zum Abendessen und zur feierlichen Entgegennahme des Bundesverdienstkreuzes. In dessen Genuss kommen normalerweise nur handverlesene Deutsche, aber in seltenen Fällen kriegt es auch einmal ein schwäbischer Tüftler, der mit einer genialen Erfindung verhindert hat, dass der Fußball an seinen Missverständnissen und Tumulten auf dem Platz zugrunde geht.

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Verletzungen im Fußball: „Khedira führt, knapp vor Ihnen“

Verletzungen im Fußball: „Khedira führt, knapp vor Ihnen“

Der Knall ist kurz. Es macht plopp und peng, die Achillessehne ist durch, der WM-Traum hängt plötzlich in der Luft wie der Wadenmuskel – und unversehens gerät man als Journalist in einen Wettlauf mit drei Fußballstars, die Weltmeister werden wollen.

Die folgende Kolumne ist aus medizinischer Sicht lebensgefährlich – sie kann zu einer Thrombose führen.

Doc Frölich macht sich jedenfalls große Sorgen. Alle paar Tage legt er die Stirn in Runzeln, mustert streng den geschwollenen Fuß mit der rötlich schimmernden Wunde und fragt sich, ob ich mich an seine heilsamen Verordnungen wirklich halte. “Geben Sie sich”, will er wissen, “immer pünktlich die Spritze?”

“Jeden Abend”, nicke ich, “mal rechts vom Nabel, mal links.”

“Nehmen Sie die Tablette?”

“Vorschriftsmäßig”, schwöre ich.

“Und das Bein”, bohrt er weiter, “legen Sie es immer schön hoch?”

“Ja”, lüge ich.

Zur Grundstellung eines Journalisten gehört es, beim Schreiben den Fuß unter dem Tisch zu haben, aber mein Doktor will unbedingt, dass ich ihn auf den Tisch lege und meine Kolumnen in den kommenden Wochen mit gestrecktem Bein formuliere. Wenn beim Fußball einer mit dem gestreckten Bein daherkommt, zieht der Schiedsrichter aus der Hose sofort die Arschkarte: glatt Rot. Doch Dr. Thomas Frölich denkt anders. Rein in einen Sessel, befiehlt er mir, Laptop auf den Bauch, ein paar dicke Kissen auf einen Schemel und das malade Bein drauf, und zwar so, dass der Fuß auf Herzhöhe liegt. Wenn ich dann zaghaft einwende, dass keine Kolumne solche Verrenkungen aushält und ich mir vorkomme wie ein Einarmiger beim Einwurf, sagt er nur: “Wollen Sie nun zur WM – oder nicht?”

Alles ist gebucht. Sepp Blatter hat meine Anwesenheit in Brasilien amtlich genehmigt, der Flug ist am 7. Juni, meine Hacienda beim DFB-Hotel „Campo Bahia“ in Santo Andre gleich um die Ecke, und Jogi Löws Zauberer legen größten Wert darauf, dass ich komme, denn bei meinen neun WM-Teilnahmen sind wir zweimal Weltmeister, zweimal Vizeweltmeister und zweimal Dritter geworden. Und ausgerechnet jetzt dieser herbe Rückschlag. Ich leide wie Michael Ballack, der vor der WM vor vier Jahren in Südafrika in Gips gelegt wurde, oder wie Sami Khedira jetzt nach seinem Kreuzbandriss.

Man sollte kurz vor einer Fußball-WM als Journalist nicht mehr Tennis spielen und schon gar nicht mit einem pfeilschnellen Schritt nach links zu einer spektakulären Rückhandpeitsche ansetzen. Plopp hat es gemacht, einfach plopp. Vielleicht war es auch ein Peng, jedenfalls war es ein jäher Knall, und dank der Gnade der frühen Geburt wusste mir sofort klar: Genau so war es auch bei Uwe, am 20. Februar 1965, Waldstadion, Eintracht gegen den HSV, 56. Spielminute. Anderntags, frisch operiert, sagte Uwe Seeler: “Ich dachte, da unten hat mich ein Elefant getreten.”

So ein Achillessehnenriss kann einen Ochsen töten, ich schwöre es. Man fällt um wie erschlagen, spürt zunächst einen ekligen Schmerz, sehnt sich nach der Vollnarkose, das Bein hat keine Kontrolle mehr, der Wadenmuskel hängt haltlos im Nichts, und das auch noch in Amerika. Hinkend habe ich mir eine Mullbinde und einen Stützstrumpf besorgt, mich auf den Flughafen in Miami geschleppt und nach der Landung in Echterdingen direkt weiter in die Praxis zu Doc Frölich, dem früheren VfB-Meisterarzt. Seine Diagnose nach der Kernspintomografie, kurz und verletzend: “Abriss.”

Kobe Bryant, der Basketballkönig, kämpft mit einem solchen seit Monaten. Auch Rosi Mittermaier, erzählt der Doc, hat es einmal erwischt, beim Slalom, trotz des dicken Skistiefels. “Mich übrigens auch”, sagt er und zeigt mir die Narbe. Es trifft offenbar nur die Besten, und man ist fast froh, dazugehören zu dürfen. Er hat mich dann also operiert, und es gibt nichts Schöneres, als hinterher wieder aufzuwachen – in der Hoffnung, dass es einem ergeht wie Seeler, der über sein damaliges Krankenzimmer noch heute schwärmt: “Überall standen Blumen. Auch die Briefe, die gekommen sind, waren herzzerreißend“.

Uwe war schon ein halbes Jahr später wieder fast der Alte und hat, obwohl ein Achillessehnenriss zu der Zeit noch als sicherer Karriereabschluss galt, die deutsche Mannschaft mit einem Spezialschuh zum 2:1 gegen Schweden und zur WM 1966 geschossen.

“Disziplin ist alles”, trichtert Doc Frölich mir nun Tag für Tag ein und motiviert mich stets mit dem Hinweis auf Sami Khedira, der mit seinem Knie neulich wieder bei ihm im VfB-Rehazentrum vorbeigeschaut hat. Außerdem betreut er Hoffenheims belgischen Torwart Koen Casteels, dessen WM-Träume plötzlich bedroht sind durch einen Schienbeinbruch, und vor ein paar Tagen ist auch Dimitri Tarasow von Lok Moskau wieder zu ihm hergeflogen. Kreuzbandriss. Frölich, als heilender Hexer bis in Putins Reich bekannt, soll auch dem Russen die WM retten.

„Wer von uns“, frage ich ihn zitternd, „hat die besten Karten?“

Doc Frölich zermartert sich kurz das Hirn, grübelt, wägt ab und sagt dann: “Khedira, knapp vor Ihnen.”

Und ich dachte schon, meine Chance sei kleiner als die einer Sau beim Metzger. Aber das ist der Vorteil eines Kolumnisten: Er muss in einem Spiel nicht zwölf Kilometer rennen, sondern nur zwölf Kilometer sitzen.

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WM in der Schweiz 1954: „Friedrich, es regnet!“

WM in der Schweiz 1954: „Friedrich, es regnet!“

Wenn man einem Toten zum 100. Geburtstag gratuliert, muss es großartige Gründe geben. Wie bei Fritz Walter. Nur eines ist traurig: Erfolglos habe ich als Kind versucht, seinen 32-Schläge-Rekord auf der Minigolfanlage in Obertal im Schwarzwald zu brechen.

Jedes Jahr flattert mir pünktlich vor der Feriensaison ein bunter Prospekt des Hotels „Belvedere“ in den Briefkasten. Früher brachte ihn der Postbote. Heute kommt er als E-Mail.

Waren Sie einmal im „Belvedere“?

Das Hotel in Spiez am Thuner See gilt seit 1954 als Wallfahrtsort. Jeder anständige Deutsche sollte es mindestens einmal im Leben aufsuchen und vor dem Treppchen am Eingang niederknien, und als ich vor ein paar Jahren eine Nacht dort verbrachte, gab es im Fanshop immer noch das Hemd von Fritz Walter. „Vom Originaltrikot“, garantierte das Hotel, „wurde das Schnittmuster genommen.“

Ich war damals allerdings nicht den weiten Weg in die Schweiz gefahren, um das nachgemachte Hemd des alten Helden zu kaufen, vielmehr wollte ich den unverfälschten Hauch der Heldentat atmen, und zwar dort, wo sich der Kapitän Walter und der Rechtsaußen Rahn, kurz: der „Boss“, damals jeden Morgen vor den Spiegel gestellt und rasiert hatten. Als fragte ich das freundliche Fräulein an der Rezeption: „Kann ich Zimmer 303 haben?“

Sie war untröstlich, als sie mir die bittere Wahrheit eröffnete: „Wir haben umgebaut.“

Zimmer 303, das Basislager des Wunders, gab es nicht mehr. Umso mehr, und damit war mein Tag dann doch halbwegs gerettet, war aber in Umrissen der historische Speisesaal noch zu erkennen, in dem am 4. Juli 1954 die vermutlich wichtigsten drei Wörter des deutschen Fußballs gesprochen wurden – die DFB-Kicker saßen beim Mittagessen, als der Nürnberger Max Morlock plötzlich durchs Fenster starrte und wie elektrisiert aufschrie.

„Friedrich, es regnet!“

Friedrich, das war Fritz Walter. „Wir nagten bei Tisch gerade die Knochen unserer Hähnchen ab“, hat der Kapitän den Glücksmoment später beschrieben. Er mochte feuchtes Gras, auf schlüpfrigem Geläuf kam seine Ballfertigkeit perfekt zum Tragen. Auch Bundestrainer Sepp Herberger zwinkerte: „Fritz, Ihr Wetter.“

Es war ein Wetter, um Helden zu zeugen. Und wir Deutsche brauchten dringend neue Helden. Die alten waren tot.

Der Rest des Tages ist Geschichte, die Bilder vom Wunder sind unauslöschlich ist allen Überlebenden gespeichert. Boss Rahns 3:2. Die patschnassen Ungarn. Die feuchtfröhlichen deutschen Schlachtenbummler in ihren Regenmänteln. Die Stimme von Herbert Zimmermann, die sich zunehmend überschlug, als er durch sein Radiomikrofon in die Heimat schrie: „Aus! Aus! Das Spiel ist aus! Deutschland ist Weltmeister!“

Der 4. Juli 1954 gilt als die wahre Geburtsstunde der Bundesrepublik Deutschland. „Wir sind wieder wer!“, spürte ein einiges Volk. Die geschundene deutsche Seele traute sich über Nacht wieder zum aufrechten Gang zurück – und der deutsche Mann griff zu Lockenstab und Pomade, um so glänzend daherzukommen wie Fritz Walter.

Der war kein Gewöhnlicher. Wenn man einem Toten zum hundertsten Geburtstag gratuliert wie jetzt diesem Pfälzer, müssen schwerwiegende Gründe vorliegen.

Wo fangen wir an?

Am besten mit seinem Tor des Jahrhunderts. Am 6. Oktober 1956 spielte der 1. FC Kaiserlautern vor 110 000 Zuschauern in Leipzig gegen Wismut Karl-Marx-Stadt, gewann 5:3, und Fritz Walter gab dem DDR-Meister den goldenen Schuss. In seinem Buch „So habe ich’s gemacht …“ beschreibt er ihn so: „Der von rechts kommende Flankenball senkte sich hinter meinem Rücken. Da ließ ich mich nach vorne fallen, fast in den Handstand und schlug mit der Hacke zu. Aus zwölf, fünfzehn Metern Entfernung flog der Ball haarscharf ins obere Toreck. Dass es ein Tor wurde, war Glück. Dass ich in dieser Situation aber überhaupt an den Ball kam und ihn traf, das war kein Glück.“

Es war Können. Er war ein zärtlicher Ballstreichler, und alte Schriften schildern ihn als genialen Spielmacher und Strategen, der nebenher verteidigte und vollstreckte. In 61 Länderspielen schoss Fritz Walter 33 Tore. Aber so gut wie keines davon kam live und in voller Länge im Fernsehen, und schon gar nicht in Farbe, die Bilder lernten gerade erst laufen. Wie gut Fritz Walter war? Es ist wie bei Muhammad Ali, dessen Trainer Angelo Dundee gesagt hat: „Den besten Ali haben wir nie gesehen.“ Denn in seinen besten Jahren war Ali als Kriegsdienstverweigerer gesperrt.

Der junge Walter zog in den Krieg und hat an der Front seine beste Zeit verloren. 1940 hatte ihn der Reichstrainer Herberger erstmals nominiert, er war 19, heute würde man Wunderkind sagen, und gegen Rumänien schoss er auf Anhieb drei Tore. 1945 kehrte er dann aus der russischen Gefangenschaft heim, 1951 in die Nationalelf zurück, und er sagte: „Der Krieg hat mir die besten Jahre gestohlen.“ Er war jenseits der 30. Eigentlich war alles vorbei. Aber es fing erst an.

Das zweite Leben.

Walter spielte jetzt nicht mehr für Hitler, aber immer noch für Herberger. Die Zwei waren wie Vater und verlängerter Arm, der Filigrane setzte die Ideen des Trainers um, und umgekehrt war Herberger sein Trauzeuge, als er 1948 die gutaussehende Italia Bortoluzzi zum Altar führte. Besorgt tuschelten die Pfälzer angesichts der feurigen Italienerin: „De schwarz Hex mit de rote Fingernägel, hoffentlich macht se de Fritz net fertig.“ In Wahrheit hat sie ihn so richtig in Fahrt gebracht. Zweimal wurde Kaiserslautern Deutscher Meister, und Atlético Madrid und Inter Mailand lockten mit Geldsäcken. Erfolgslos. „Dehäm is dehäm“, soll der Fritz gesagt haben.

Dann kam die WM 1954.

Das Wunder wird immer mit dem „Geist von Spiez“ erklärt, aber es steckte auch der Geist von Schwarzwald dahinter. Ich weiß das, mein Opa Artur stammte aus Baiersbronn-Obertal, wir feierten dort immer unseren jährlichen Familientag, und im Gasthof „Blume“ am Eingang des Fleckens haben Herbergers Helden bis heute ihre Spuren hinterlassen, die alten Fotos vom Wirt mit dem Sepp und dem Fritz halten die glorreiche Vergangenheit wach. Vor der WM in der Schweiz tankten die angehenden Weltmeister in Obertal die Luft für das Wunder, und auf dem Minigolfplatz stellte Fritz Walter einen neuen Rekord auf: 32 Schläge. Ich habe als Bub später jedes Jahr versucht, ihn zu brechen, aber irgendwann erfolglos kapituliert.

Mit acht Schlägen haben es bei der WM dann die Ungarn unseren Deutschen besorgt. Ferenc Puskas und seine Puszta-Zauberer, unbesiegt in vier Jahren, zerlegten das Team um Fritz Walter in der Vorrunde in alle Einzelteile, Endstand 8:3. In Erwartung einer Niederlage hatte Herberger seine besten Spieler sicherheitshalber weggelassen, und er hätte die Demütigung besser auch seinem sensiblen Kapitän erspart. „Jahrelang war ich vor jedem Spiel so aufgeregt, dass mir schlecht wurde“, gestand Walter einmal, „ich saß dann oft bis kurz vor Anpfiff auf dem Klo.“ Das probate Gegenmittel fand Herberger, ein Fuchs in Sachen Menschenführung, aber im „Belvedere“: Auf Zimmer 303 kombinierte er den Grübler mit dem sorglosen Helmut („Boss“) Rahn, einer Stimmungskanone. „Helmut“, sagte der Chef, „baue Se mir den Fritz auf.“

Die Zwei ergänzten sich derart, dass der Grübler dann im Halbfinale zwei Elfmeterbälle seelenruhig im österreichischen Kasten versenkte und der Boss im Finale gegen die unschlagbaren Ungarn erst das 2:2 schoss und dann Herbert Zimmermann auch noch den Schrei aller Schreie entlockte: „Aus dem Hintergrund müsste Rahn schießen, Rahn schießt, Tooor, Tooor, Tooor – Tooor!“

Fritz Walter bekam als Weltmeister 2300 Mark, einen Motorroller, eine Couchgarnitur, einen Fernseher, einen Staubsauger und eine Nähmaschine. Er schrieb den Bestseller „3:2“ und spielte, um die verlorenen Kriegsjahre nachzuholen, dann auch noch die WM 1958 in Schweden. Und um ein Haar wäre es dort zum finalen Königsduell gekommen: Der 37-jährige Fritz Walter gegen den 17-jährigen Pelé.

Ein furchtbares Halbfinale hat den Traum dann zerstört, speziell den des Chronisten hier, der sich achtjährig seiner ersten WM hingab. Ein Bub vergisst nichts. Ich lag vor dem Radio und habe erst gezittert und am Ende geheult. Es handelte sich um eine der damals sehr beliebten Musiktruhen, links war das Fach mit dem Eierlikör und dem Kognac, rechts der Plattenspieler mit dem Radio, und aus dem brüllten 50 000 Schweden ihr „Heja! Heja!“ an jenem fürchterlichen Abend, der damit endete, dass uns Herbert Zimmermann an die Heimatfront durchgab, wie Fritz Walter gefoult und von den Cotrainern Schön und Gawliczek vom Platz getragen wurde, den Kopf in beide Hände vergraben. Für den Rest des Spiels hinkte er wie ein Kriegsversehrter auf Rechtsaußen.

Es war Fritz Walters letztes Länderspiel. Danach wurde er Ehrenspielführer, unter anderem eine Straße, eine Schule, ein Triebwagen der Bundesbahn, ein Sekt, ein Fußballturnier, eine Stiftung und das Stadion am Betzenberg wurden nach ihm benannt, und 2002 ist er zu Grabe getragen worden. Aber er lebt.

Denn ein großer Toter stirbt nie. Im „Belvedere“ ist jahrzehntelang sein Trikot nachgebaut worden, und flankierend gab es in Deutschland anlässlich eines runden Geburtstags des Berner Wunders für 14,90 Euro auch noch einen Regenschirm mit dem Aufdruck „Fritz-Walter-Wetter“. Er war dem Schirm nachempfunden, den man dem deutschen Kapitän hingehalten hatte, als ihm FIFA-Präsident Jules Rimet damals im Wankdorfstadion den WM-Pokal überreichte.

Es war ein Sauwetter am 4. Juli 1954 – aber so hat es der Fritz gewollt.

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WM in Südkorea 2002: „Es wird mich ein paar Tage quälen“

WM in Südkorea 2002: „Es wird mich ein paar Tage quälen“

Olli Kahn ist abgetaucht, er therapiert sich im Urlaub auf Sardinien. Wie kommt ein Fehlerloser mit einem Fehler klar – und dann auch noch mit so einem solchen wie am Sonntag im WM-Finale in Yokohama?

Als Oliver Kahn nach dem WM-Endspiel auf dem Boden hockte und haltsuchend mit dem verlängerten Rücken am Torpfosten lehnte, fertig mit sich, Gott und der Welt, war es von Vorteil, dass ihm keiner einen Revolver reichte – er hätte sich dankend den Fangschuss gegeben.

Was in ihm vorging?

Um davon eine ungefähre Ahnung zu haben, muss man lediglich wissen, was Vater Rolf einmal aus der Kindheit seines Olli berichtet hat: „Wenn der Bub beim Mensch-ärgere-dich-nicht verloren hat, sind mir die Figuren um die Ohren geflogen.“

So ähnlich muss es gewesen sein, nur viel schrecklicher, als der beste Torwart der Welt letzten Sonntag in Yokohama das Endspiel der Weltmeisterschaft verloren hat. Statt der Olli-ärgere-dich-nicht-Figuren hat er diesmal seine Handschuhe weggepfeffert, und im Übrigen wäre er auf der Stelle verrückt geworden, wenn er es, weil es die unheilbare Berufskrankheit aller Torleute ist, nicht schon vorher gewesen wäre. Ein Torwart muss verrückt sein, er geht auf dem schmalen Grat zwischen Held und Depp sonst zugrunde.

Schon früh in den 1990er Jahren, er war Anfang 20, hat mir Kahn sein Berufsbild erklärt. Als verheißungsvolles Talent stand er damals im Kasten des Karlsruher SC und hatte noch nicht viel erlebt, wusste aber bereits bestens, welche berufliche Herausforderung er sich da aufgehalst hatte: „Als Torwart bist du Einzelkämpfer“, sagte er, „ein Feldspieler kann seine Fehler auswetzen, der Torwart nicht. Das Leben im Tor macht einsam.“ Vor allem so ein Fehler.

Es war bei der ganzen WM sein einziger.

Was hatte er für ein tolles, unübertreffliches, überwältigendes Turnier gespielt, Freund und Feind hatte ihn gefeiert und gefürchtet als „King Kahn“ oder „Titan“. Ohne den Teufelskerl im Tor wäre Rudi Völlers DFB-Team nicht im Finale gelandet, sondern schnell nach der Vorrunde auf Schleichwegen heimgeflogen, Economy, Holzklasse, und auf dem Frankfurter Flughafen vermutlich mit einem Wurfhagel aus Südfrüchten und faulen Tomaten empfangen worden. Aber aus drei Gründen landete die Truppe stattdessen am Ende im Finale, nämlich „mit Kampf, Krampf und Kahn“, wie der TV-Reporter Marcel Reif wahrheitsgemäß vermeldete. Der beste Torwart der Welt wurde vor dem Anpfiff auch noch zum besten Spieler der WM gewählt. Und dann das: Er verliert dieses finale Spiel, das alles entscheidende, das wichtigste seiner Karriere.

„Es wird mich ein paar Tage quälen“, sagt er in der finsteren Nacht nach dem Malheur.

Ein paar Tage? Sein Leben lang wird er ihn verfolgen, denn die Welt ist gemein. „Die einzigen, die sich an dich erinnern, wenn du Zweiter wirst, sind deine Frau und dein Hund“, hat der Brite Damon Hill gesagt, als er in der Formel 1 an Michael Schumacher wieder einmal nicht vorbeikam. Wobei Kahn jetzt nicht mit Frau und Hund, sondern mit Frau und Kind versucht, die Gespenster loszuwerden. Nach Sardinien ist er angeblich geflüchtet, in den Urlaub, oder in die Therapie.

Vermutlich steht er in diesem Moment im Hotelzimmer vor dem Spiegel und beschimpft sich selbst, oder er beißt sich in die Backe, wie er es in der Bundesliga gelegentlich mit Gegenspielern macht, mit bis zum Anschlag vorgeschobenem Kinn und einer Fratze der Selbstverachtung. Denn nur als Fehlerloser und Nummer eins ist sich einer wie Kahn gut genug, so war es schon in seinen Anfangsjahren beim KSC, als ihm die Rivalen Famulla und Wimmer den Platz im Tor streitig machten – der arme Famulla, erinnert sich Rudi Wimmer, habe sich im Hotel sicherheitshalber nie mit Kahn auf ein Zimmer gelegt, „vor Angst, dass ihm der nachts das Kopfkissen aufs Gesicht drückt.“

Diese Angst muss Ollis Frau jetzt nicht haben, dafür aber anderweitig auf alles gefasst sein. Schlägt er im Schlaf um sich? Klatscht er Rivaldos Schuss auch in seinen Albträumen nochmal ab? Führt er zermürbende Selbstgespräche? Trommelt er mit den Fäusten gegen die Nachttischschublade? Wie verarbeitet Kahn diesen Tiefpunkt seiner Karriere, von dem er ahnt, dass es keinen tieferen geben wird? Wie geht er mit dem Mitleid um und dem Wissen, den Mythos der Unbezwingbarkeit verspielt zu haben? Als er da unten im Gras hockte, bezwungen, besiegt und innerlich beerdigt, sagte der Sat-1-Reporter Werner Hansch: „Mir kommt er in diesem Moment näher. Er ist wieder unter uns – als Mensch.“

Für Kahn ist das kein Trost. Der Außerirdische gegen den Rest der Welt, man kann sich als Torwart an solche Schlagzeilen gewöhnen. „Der Steingesichtige ist ein Gigant“, hatte ihn ein Blatt aus Dallas bestaunt, nachdem der US-Jungstar Landon Donovan frei vor Kahn wie das Kaninchen vor der Schlange erstarrt war – die Szene deckte sich mit der ins echte Leben übertragenen Blaupause jenes TV-Werbespots, in dem ein Elfmeterschütze, als er Kahn vor sich sieht, mitten im Anlauf umdreht und flüchtet. So wird man als Torwart irgendwann zum Ritter mit der stählernen Rüstung, an dem alles abprallt, Jahr für Jahr ist Kahn diesem Bildnis immer gerechter geworden, bis er letzte Woche vollends über allem schwebte, „Bild“ machte es kurz: „Die Faust Gottes.“

In der Etage über Olli wohnte höchstens noch der Allmächtige – aber dem wurde der Zauber dann offensichtlich zu bunt, und er hat die himmlische Hierarchie mittels der Schrecksekunde von Yokohama wieder zurechtgerückt.

Wie findet der gefallene Gigant jetzt auf Sardinien wieder zum inneren Frieden? Keiner weiß es, aber es fühlt sich zumindest beruhigend an, wenn man hört, dass er zur Entspannung angeblich gerne Vivaldi und Tschaikowsky hört und sich in Notfällen ergänzend noch auf das Buch „Mentale Stärke“ von James E. Loehr stützt. Es spricht also vieles dafür, dass Kahn demnächst wieder in die Handschuhe spuckt und die größten Kanoniere der Welt sich langsam schon wieder überlegen sollten, wie sie am besten vor ihm in Deckung gehen.

Auch der Bundeskanzler hat sich mittlerweile eingeschaltet und die Rückkehr des Bundestorwarts zur alten Stärke sozusagen zur Chefsache erklärt. „Olli Kahn ist nach diesem Fehler nicht kleiner, das ist doch Unsinn“, hat Gerhard Schröder die angeschlagene Nation beruhigt, und flankierend haben wir einen TV-Propheten auf Sat 1 sagen hören: „Ein Kahn kommt zurück, stärker denn je.“

Noch stärker? Gott steh ihm bei.

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