Philipp Lahm: „Hör jetzt gut zu, Felix, ich hab Dir da einen“

Philipp Lahm: „Hör jetzt gut zu, Felix, ich hab Dir da einen“

Philipp Lahm ist als Turnierdirektor der EM 2024 nirgends so herzlich willkommen wie in Stuttgart. Unter allen Beute-Schwaben ist der Bayer der Berühmteste: Womöglich hätte seine Karriere als Weltstar ohne den VfB nie begonnen – genauer gesagt: ohne diesen Telefonanruf im Mai 2003.

Im Mai 2003 griff Hermann Gerland aufgeregt zum Telefon. Viel hat nicht gefehlt, und er hätte die „911“ angerufen.

Jedenfalls war es ein Notruf.

Gerland trainierte seinerzeit die zweite Mannschaft des FC Bayern, und das Schicksal eines seiner Spieler brachte ihn schier um den Schlaf. Der junge Mann war neunzehn, die Bayern trauten ihm den großen Sprung noch nicht zu, aber Gerland spürte: „Es wäre eine Schande gewesen, wenn er weiter in der Regionalliga hätte spielen müssen.“

Zur Klarstellung: Gerland war keiner, der ein Talent vorschnell mit den höheren Weihen verwöhnte. Grundsätzlich war er eher ein skeptischer Grantler, einmal entfuhr ihm sogar der Satz: „Von den heutigen Profis traut sich im Dunkeln keiner mehr auf die Straße.“

Aber dieser Neunzehnjährige war anders. Das war einer wie er, und wie der Bundesligaverteidiger Gerland früher war, beschreibt der Extorjäger Jupp Heynckes in der Erinnerung mit Grausen: „Die offenen Wunder am Schienbein habe ich immer noch.“ Man nannte Gerland den „Tiger“, er war bissig und hungrig – und als er als Trainer jetzt sah, dass dieser Neunzehnjährige darüber hinaus auch noch richtig Fußball spielen konnte, bot er ihn quer durch die Bundesliga an. Er holte sich von den vielen Absagen fast ein wundes Ohr – bis er an Felix Magath geriet, der damals den VfB trainierte.

„Hör jetzt gut zu, Felix“, sagte Gerland, „ich hab Dir da einen.“

Magath wusste: Der Tiger lügt mich nicht an. Sie tickten auf einer Wellenlänge, sie liebten beide den Medizinball als Trainingsinstrument, und als Gerland erzählte, dass der junge Mann auch noch einen starken Charakter hat, vergaß Magath den bettelarmen Zustand des VfB und ging mit dem Hut sammeln, um die cirka 100 000 Euro Leihgebühr zusammenzukratzen. So fing im Sommer 2003 die Karriere des Philipp Lahm an.

Die Folgen sind bekannt: Bester Verteidiger der Welt, Weltmeister, Klub-Weltmeister, Champions-League-Sieger, achtmal Deutscher Meister, sechsmal DFB-Pokalsieger, Fußballer des Jahres, Kapitän der Nationalmannschaft, 113 Länderspiele, 385 Bundesligaspiele. Andere sind jedes Jahr ein paar Wochen lang Klasse, aber Lahm war Woche für Woche Klasse, Spiel für Spiel. Hinten war er ein Wadenbeißer und weiter vorne ein Virtuose am Ball, er war Verteidiger und Außenstürmer, und die Kalklinie hat gestaubt, wenn er sich beim Auf und Ab da draußen am Flügel ständig unterwegs selbst begegnete.

„Er ist der intelligenteste Spieler, den ich je trainiert habe“, behauptet Pep Guardiola, und der Spanier hat immerhin Lionel Messi trainiert – dass er den späten Lahm beim FC Bayern dann auch noch zum Spielaufbauer im zentralen Mittelfeld machte, war vollends der Ritterschlag.

Lahm zieht auch heute noch die Fäden, inzwischen als Turnierdirektor der EM 2024. „Wir wollen“, sagt er, „ein Fest veranstalten, das einen Aha-Effekt hat.“ Das WM-Sommermärchen von 2006 will er wiederholen, und um das Wir-Gefühl und den gesellschaftlichen Zusammenhalt wiederzubeleben, krempelt er wie seinerzeit die Ärmel hoch, spuckt in die Hände und ruft in Richtung Nationalmannschaft: „Es muss wieder in die Köpfe der Spieler, dass sie ihr Land vertreten und als verschworene Einheit auftreten.“ Das hat er in den letzten Jahren vermisst – „dass sich einer für den anderen auf dem Platz aufopfert.“

Voller Wehmut erinnern sich an Philipp Lahm alle Fußballdeutschen – und voller Wehklagen seine Gegenspieler.

Fragen Sie Nuno Capucho. Der Portugiese befand sich bei den Glasgow Rangers in der Blüte seines Stürmerlebens, als er auf den jungen VfB-Lahm traf. In der Champions League war das, früh im neuen Jahrtausend, und für Capucho wurde der Abend zum Albtraum. Da hatte er jahrelang die besten Verteidiger der Welt vernascht, sie schwindlig gedribbelt, sie gemütskrank gespielt, aber um Lahm kam er kein einziges Mal herum. Wenn Capucho ausholte, um aufs VfB-Tor zu schießen, war der Ball immer schon weg – und der kleine Lahm damit auf und davon.

In der üppigen VfB-Geschichte ist kein Rechtsfüßler urkundlich erwähnt, der an der linken Kalklinie mit dem falschen Bein auch nur annähernd so gut zu Fuß war wie Lahm. Erstaunlich war seine Ballsicherheit und Übersicht, selbst in höchster Bedrängnis brachte er die Kugel noch durch die hohle Gasse zum Nebenmann. Und wenn jeder gewettet hätte, dass Lahm gleich einen Haken nach innen schlägt, um mit rechts zu flanken, machte er stattdessen seinen Bauerntrick, wuselte außen vorbei bis zur Torauslinie – und alles mit links.

Auf der verkehrten Position musste Lahm anfangs noch spielen, aber im Kopf stimmte von vornherein alles. Einmal war er im ZDF-Sportstudio und erzählte, dass er nicht zu denen gehört, die einen Hofstaat aus Beratern beschäftigen. „Mir helfen“, sagte er, „zwei Freunde.“ Andere Jungstars ließen sich längst fernsteuern von Ratgebern aller Art, die ihnen beim Vertragspoker auch noch Schlechtwettergeld und ein beheizbares Trikot herausholten, aber Lahm war Lahm. Er entsprach nicht dem Klischee des verwöhnten Jungdotters unter den Weicheiern.

Kurz: Er war genau der Richtige für den VfB, der sich zu der Zeit nur angehende Weltmeister leisten konnte, die nichts kosten. Jedenfalls war er einer der Fälle, in denen der VfB die Fehler, die sich der FC Bayern in jedem Jahrzehnt einmal erlaubt, brutal ausnutzt. 1984 hießen diese Fehler Sigurvinsson und Niedermayer, und 1992 war es der kleine Kögl, der als Trickerl-Wiggerl alles schwindlig gekögelt und am Ende der Saison den Ball noch an die Birne von Buchwald gezirkelt hat – und, batsch, war der VfB wieder Deutscher Meister.

Diesmal also Lahm. Zwei Jahre war er da, ehe die Bayern ihren Fehler rückgängig machten. Meister ist der VfB zwar nicht ganz geworden, aber für Champions League-Feste hat es gereicht, und der Hochbegabte startete senkrecht durch, vorbei an allen Bedenkenträgern und Zweiflern, oder sagen wir es mit Gerland: „Für einige war er zu leicht.“

Und der Längste war Lahm ja auch nicht. Es war später immer wieder ein witziges Bild, wenn die Fernsehkamera bei der Nationalhymne plötzlich vom Torwart Neuer mit einem ruckartigen Schwenk zwei Köpfe tiefer ging, hinunter zum DFB-Kapitän Lahm, der dort mit Hingabe sein „Blüh im Glanze dieses Glückes, blühe, deutsches Vaterland“ vor sich hingeschmetterte.

Die Kleinen haben, so dicht über der Grasnarbe, kein leichtes Leben. Humphrey Bogart hat sich früher eine Sprudelkiste oder das Telefonbuch von New York unter die Füße schieben lassen, um in „Casablanca“ zu Ingrid Bergman sagen zu können: „Schau mir in die Augen, Kleines“. Und oft genug hört man fragwürdige Scherze. Kennen Sie den? Die deutschen Exweltmeister Hässler, Littbarski und Thon, alle um die Einssechzig, klettern auf einen Barhocker. „Drei Kurze“, sagt Litti. Darauf der Wirt: „Das sehe ich. Und was wollt ihr trinken?“

Die Kurzen rächen sich dann auf ihre Art: Als Charlie Chaplin, Woody Allen, Frank Sinatra und Dustin Hoffmann nicht mehr wuchsen, beschlossen sie, Weltstar zu werden. Und die Fußballer zeigen, dass in der Kürze die Würze steckt, indem sie Weltmeister werden, siehe Maradona, Messi und Lahm. Der hat sich, wenn es um die Wurst ging, die hohen Stollen unter die Stiefel geschraubt und ist über sich hinausgewachsen mit der Devise: Je kleiner der Kerl, desto größer der Ehrgeiz.

Philipp Lahm hat sich nie unterkriegen lassen. Er ist den gewaltigsten Riesen über den Kopf gewachsen und kann sich eines fernen Tages getrost in den Grabstein meißeln lassen: „Er war schmächtig, aber mächtig.“ Sein Zeuge ist Michael Ballack. Der war in der Nationalmannschaft jahrelang der hünenhafte „Capitano“, aber als er sich vor der WM 2010 verletzte und im Gipskorsett lag, war Lahm sofort bereit für die Machtergreifung, Viele dachten spontan an den einstigen Nationallinksaußen Dieter Eckstein, der beim 1. FC Nürnberg unter drei cirka einsfünfundsechzig großen Präsidenten gespielt hatte und fortan behauptete: „Die Kurzen mit den hohen Absätzen sind gefährlich.“

Lahm hat sogar Kopfballtore gemacht, ohne vorher weinerlich nach einem Schemel zu rufen, er hatte diesen eisernen Willen. „Im Schnitt schieße ich bei der Nationalmannschaft etwa alle zwei Jahre ein Tor“, hat er einmal glaubhaft erzählt, aber bei der WM 2006 schoss er im Eröffnungsspiel dann gleich das erste. Endstand: 4:2 gegen Costa Rica. Lahms traumhafter Schlenzer, hoch ins Eck, war der Startschuss ins anschließende Sommermärchen.

In Stuttgart, seinem Geburtsort als Fußballstar, ist das glorreiche Turnier damals passender Weise zu Ende gegangen, erst im Hotel Graf Zeppelin und dann im Stadion. „Es gab während der WM 2006 viele unglaublich schöne Erlebnisse“, erinnert er sich in stillen Stunden, „am beeindruckendsten aber war, als wir zum Spiel um Platz drei nach Stuttgart gekommen sind.“ Eigentlich war die Luft raus. Unglücklich hatte das DFB-Team das Halbfinale gegen Italien verloren, und jeder Versuch der nochmaligen Motivation war so gut wie aussichtslos.

„Und dann“, hat Lahm den Schlüsselmoment später der „ZEIT“ detailliert geschildert, „kommen wir nach Stuttgart. Ich glaube, unser Bus hatte zwei Stunden Verspätung. Es gab einen Platzregen, es hat geschüttet ohne Ende und trotzdem haben, ich tippe mal, 15 000 Fans vor unserem Hotel gewartet und uns zugejubelt. Das war ein unglaubliches Gefühl. Unten wurden die Straßen abgesperrt. Wir waren dann abends um zehn Uhr oben bei den Physiotherapeuten, und die Leute haben draußen immer noch bis in die Nacht hinein gesungen. Das war Wahnsinn. Das hat uns nochmal die Motivation gegeben, so ein gutes Spiel um Platz drei hinzulegen.“

3:1 gegen Portugal. Auch Cristiano Ronaldo fand keine Antwort, der angehende Superstar fühlte sich bitter erinnert an den 1. Oktober 2003. Sein erstes Champions-League-Spiel hatte der Portugiese an jenem Abend gemacht, im Dress von Manchester United gegen den VfB, und schon damals war er wie gelähmt ob der Anwesenheit von Lahm. Nur einmal wurde es eng, Lahm traf in höchster Rettungsnot den VfB-Pfosten, von dort sprang der Ball zu Ronaldo, der stürzte im Zweikampf mit VfB-Torwart Timo Hildebrandt, und Ruud van Nistelrooy verwandelte den Elfmeter zum 2:1. Dabei blieb es, in einem der größten Spiele in der Geschichte des VfB. „Heute war alles perfekt“, sagte Felix Magath – und wenn nicht erstunken und erlogen ist, was man hört, hat der Trainer sich in jener Nacht vor dem Spiegel selbst gegrüßt und beglückwünscht für seine weise Voraussicht in Sachen Lahm.

Philipp Lahm ist in Stuttgart jedenfalls immer herzlich willkommen, und wenn Not am Mann ist, greift der alte Beute-Schwabe dem VfB auch heute noch unter die Arme. 2022 hat ihn der VfB-Vorstandsvorsitzende Alexander Wehrle als Berater engagiert, und von wöchentlichen, virtuellen Sitzungen war die Rede, und dass Lahm seine „Erfahrung und Expertise“ (Wehrle) einbringt. Auf der Tribüne sah man Lahm eher selten, was aber zu verkraften war, denn er sieht mit dem Fernglas aus München mehr als andere, die in Stuttgart im Stadion sitzen. „Mit meiner Beratung“, versprach Lahm, „will ich dazu beitragen, dass der VfB wieder ein Verein ist, der viel öfter gewinnt als verliert.“

Jedenfalls ist der VfB danach nicht abgestiegen.

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WM in Mexiko 1970: „Ita-lia! Ita-lia!“

WM in Mexiko 1970: „Ita-lia! Ita-lia!“

Das Spiel des Jahrhunderts feiert Jubiläum. Nie war der Fußball wunderbarer und furchtbarer als am 17. Juni 1970: Im Aztekenstadion in Mexiko City steckten sie unserem versehrten Kaiser den Arm in die Schlinge, und daheim war es uns nach dem Strick – zu unerträglich wurden im Laufe der Nacht die Freudenschreie von den Nachbarbalkonen.

Vor ein paar Tagen hat der Chef der Sportredaktion mein Langzeitgedächtnis und meine Eignung für den folgenden Text mit der Frage getestet: „Wo warst Du am 17. Juni 1970?“

Jeder von uns kennt diese historischen Verhöre. Wo warst Du, als Neil Armstrong den Mond betrat? Wo warst Du, als in Berlin die Mauer fiel? Wo warst Du, als die Flugzeuge in die Zwillingstürme in Manhattan flogen?

Wo war ich am 17. Juni 1970?

Daheim im Fernsehsessel bin ich gehockt, wie jeder pflichtbewusste Deutsche, und habe abwechselnd gebrüllt vor Glück und geflucht vor Wut.

Fünfzig Jahre ist es her, aber ich sehe immer noch meinen Vater vor mir, wie er sich mitten in der Verlängerung ans Herz langt und sagt: „Ich muss ins Bett, ich ertrage das nicht.“ Dann ist er geflüchtet und hat mich alleingelassen mit diesem wunderbarsten und furchtbarsten Fußballspiel, das die Welt jemals gesehen hat.

Man muss Italiener sein, um in jener Nacht keine bleibenden seelischen Schäden erlitten zu haben. Wir Deutschen werden mit diesem WM-Halbfinale in Mexiko City, das als Fußball begann und als Folter endete, nie ins Reine kommen, da geht es uns wie Gerd Müller, der am Ende im Gras des Aztekenstadions lag und sich schwor: „Von diesem Spiel will ich mein Leben lang nichts mehr sehen. Ich würde heulen.“

Näher als in jener Nacht sind sich Triumph und Tragödie nie gekommen. Die Gefühle fuhren Achterbahn und Geisterbahn, und das Unbegreifliche ist am Aztekenstadion verewigt mit einer Gedenkplakette, vor der sich die Fußballfans seit fünfzig Jahren verbeugen wie die Pilger in Mekka: „Italia – Alemania. 17 de junio de 1970. Partido del siglo.“ Das Spiel des Jahrhunderts.

Die Dramaturgie des Gruselns und Grauens beginnt in der siebten Minute. 0:1, Boninsegna.

Roberto Boninsegna. Keiner ahnt in dem Moment, dass dieser Name uns Deutsche bald im Schlaf verfolgen wird. Dass er uns schon ein Jahr später wiederbegegnen wird in einer traurigtollen Europacupnacht, in der Günter Netzer das Spiel seines Lebens macht. Mit seinen Gladbachern schießt der “King vom Bökelberg” die amtierenden Weltpokalsieger von Inter Mailand mit 7:1 aus den Schuhen, nur ein Ausfall des Flutlichts könnte die Italiener an dem Abend retten oder der Wurf einer Cola-Dose. Die feuert der Lagerarbeiter Manfred K. dann tatsächlich ab, an den Kopf von Boninsegna, der gerade einen Einwurf macht. Andere schwören, die Büchse habe nur seinen Rücken gestreift. Die Dose war auf jeden Fall leer, aber wie von der Axt erschlagen fällt Boninsegna um. Sieben Minuten lang liegt er regungslos da, das Herbeirufen eines Priesters für die letzte Ölung scheint unumgänglich, und auf der Bahre trägt man den Mausetoten schließlich hinaus. Das 7:1 wird hinterher am grünen Tisch annulliert, Gladbach fliegt raus, Netzers größtes Spiel hat nie stattgefunden, und das übelste Schimpfwort im deutschen Fußball heißt fortan nicht Schauspieler oder Spitzbube, sondern Boninsegna.

Aber das weiß in der siebten Minute am 17. Juni 1970 noch niemand. Man weiß nur, dass es jetzt 1:0 für Italien steht, Tor Boninsegna. Danach stürmt nur noch Deutschland. Schüsse, Kopfbälle, Eckbälle, Querschläger. Facchetti foult Beckenbauer. Im Strafraum stürzt auch Seeler. „Der Sauhund bescheißt uns!“, flucht irgendwann Müller.

Er meint Arturo Yamasaki, den mexikanischen Schiedsrichter. Drei Elfmeter verweigert er den Deutschen und gibt damit die Vorlage für den pfiffigen TV-Spot, den Olli (“Dittsche”) Dittrich später für eine große Elektronikfirma dreht. Er verkörpert darin einen italienischen Toni, wie der normal veranlagte Fußballdeutsche ihn sich vorstellt, glitzernde Goldkette, Mafiasonnenbrille, einen Eimer Gel im Haar und immer einen coolen Spruch auf den Lippen – in dem Fall lacht Toni uns Deutsche dafür aus, dass wir uns vor einer WM immer neue Fernseher kaufen. “Was kaufen die Italiener?”, grinst Toni. “Sie kaufen die Schiedsrichter.”

Jedenfalls wird Yamasaki zum Sargnagel zahlreicher deutscher Bemühungen. Obwohl Beckenbauer nach Facchettis Foul nur noch einen brauchbaren Arm hat (den anderen hat man ihm samt Schulter mit Klebebändern am Körper befestigt), schleppt der Kaiser wie ein Kriegsversehrter Ball für Ball an die Front. „A-le-ma-nia!“, brüllen die Mexikaner. Overath trifft die Latte, einmal tanzt der Ball auf der Torlinie, doch das Bollwerk des Catenaccio hält.

Dann läuft die 90. Minute, und die Italiener rechnen mit allem, nur nicht mit Karl-Heinz Schnellinger. „Carlo“ rufen sie den Kölner, er spielt seit Jahren beim AC Mailand, als Verteidiger. Die Mittellinie überschreitet er dort nie. Doch plötzlich ruft nun von der deutschen Bank einer aufs Feld: „Carlo, vor!“

„Wohin?“, soll Schnellinger noch zurückgerufen haben, denn er kennt sich da vorne nicht aus – aber dann fragt er sich irgendwie durch, schleicht sich vors italienische Tor und macht instinktiv, was er auch hinten immer macht: Mit gestrecktem Bein stürzt er sich in Grabowskis Flanke. 1:1. „Ausgerechnet Schnellinger!“, brüllt Ernst Huberty in sein ARD-Mikrofon. In Deutschland ist es dreiviertel Eins in der Nacht, und es ist das Tor zur Verlängerung. Aber vor allem das Tor zum Verrücktwerden. Was danach passiert, reißt die ganze Welt mit. Mit pochendem Puls dichtet Walter Lutz, der Chefredakteur des Zürcher „Sport“, wie ihn der Wahnsinn übermannt „im faszinierendsten, aufwühlendsten und spannendsten Fußballkampf, den ich je erlebt habe, im mitreißendsten und hochklassigsten Spiel dieses WM-Turniers, in einem Match, in dem in der Verlängerung alle Dämme brechen, sich alle Schleusen großherzig öffnen und in welchem alle fußballerischen Grundregeln über den Haufen geworfen werden.“

Das 2:1 durch Gerd Müller löst die Lawine des Irrsinns. Mit dem Schenkel (oder ist es die Arschbacke?) wurschtelt er den Ball ins Tor, und für die 102 000 Augenzeugen im Aztekenstadion und das weltweite Milliardenpublikum, darunter mich, ist schlagartig klar: Die Italiener sind fertig, ausgelaugt von der dünnen mexikanischen Luft und der Gluthitze, 50 Grad hat es auf dem Platz. Aber stattdessen unterläuft Siggi Held der Fehler seines Lebens. 2:2 durch Burgnich.

Es ist mittlerweile kein Spiel mehr, sondern eine wilde Mischung aus Herzschlag, Hitzschlag und Hitchcock. Ein „Bild“-Reporter lässt sich daheim in der Redaktion an eine Maschine anschließen, die ihm einen Herzschlag von 139 bescheinigt. Als Armstrong den Mond betrat, hatte er 120.

2:3 durch Gigi Riva.

Ich versinke in meinem Sessel. Jeder von uns kennt solche Momente, in denen er vom Glauben abfällt. Und das Unglück wird nicht erträglicher durch das Stakkato der Jubelschreie von den Nachbarbalkonen: „Ita-lia!“

Machen die Italiener uns jetzt vollends fertig? Nein, beschließt Bomber Müller trotzig. Er ist neben dem Brasilianer Pele der Star der WM, neun Tore hat er schon geschossen, und vor Wut macht er jetzt sein zehntes. 3:3. Machtlos steht Gianni Rivera, der Milan-Star, auf der Torlinie und beißt ins Netz. Dann trottet Rivera mit hängendem Kopf zum Anstoß. Angriff der Italiener über links, Ball in den Strafraum.

3:4 durch Rivera.

Schluss. Aus. Als anständiger Deutscher bin ich jetzt fertig mit Gott und der Welt, und in der Nachbarschaft wird das „Ita-lia!“ immer demütigender. Aus Wolfsburg hört man noch, dass die VW-Gastarbeiter den Sieg dort mit Hupkonzerten feiern, und mit dem Schlachtruf: „Kartoffel kaputt. Spaghetti schmeckt gut.“ Es ist halb Zwei in der Nacht – und das einzig Schöne ist, dass der 17. Juni 1970 vorbei ist.

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