WM in England 1966: „Dieser gierige Kraut“

WM in England 1966: „Dieser gierige Kraut“

Das dritte Tor von Wembley ist gerächt: Helmut Haller hat 1966 nach dem Schlusspfiff den WM-Ball geklaut, der nicht drin war – und ihn den Engländern Jahre später für viel Geld wieder angedreht.

Kürzlich hat ein 16-Jähriger einen Schnapsladen überfallen und unter Androhung von Waffengewalt die Herausgabe hochprozentiger Getränke erzwungen – aber die Strafe fiel glimpflich aus, der Richter erkannte auf mildernde Umstände aufgrund schwerer Kindheit.

Ich weiß, was er meint.

Denn schwerer als meine kann eine Kindheit nicht sein. Bei der ersten WM, die ich mitbekam, war ich acht, das war 1958, und wir sind im Halbfinale gegen die Schweden schamlos beschissen worden. Aber vor allem kam dann 1966 auch noch dieses traumatische Schlüsselerlebnis hinzu, das ein heranwachsender 16-Jähriger normalerweise nicht verkraftet, ohne straffällig zu werden – jener unerträgliche Moment am unsäglichen 30. Juli 1966, als Rudi Michel den Satz in sein ARD-Mikrofon zitterte, den kein Deutscher jemals vergisst: „Kein Tor! Kein Tor! Oder doch? Und jetzt, was entscheidet der Schiedsrichter?“ Gottfried Dienst, die Schweizer Pfeife, entschied auf Tor.

Der Deutsche Fußball-Bund eröffnet am Wochenende die Ausstellung „50 Jahre Wembley-Tor“ und wird hoffentlich ein Mahnmal enthüllen, damit so ein Unrecht nie wieder passiert. Aber auf jeden Fall haben die Engländer schon einmal den richtigen Dämpfer erhalten: Das Auktionshaus „Sotheby`s“ wollte kürzlich das Trikot versteigern, in dem Geoff Hurst im damaligen WM-Finale uns Deutsche mit drei Toren erschossen hat – aber keiner kauft es.

Ein Ladenhüter.

Eigentlich müsste jeder halbwegs anspruchsvolle englische Souvernirjäger Haus und Hof für ein Stück WM-Hauch von 1966 verkaufen, aber für das auf 600 000 geschätzte Heldenhemd von Hurst ging nicht einmal das Mindestangebot ein. Das rote Stück Stoff mit der „10“ wird gemieden, als ob Blut daran klebt. Dabei sind es nur Hursts Schweiß und die Tränen von Hans Tilkowski, Willi Schulz, Siggi Held oder Uwe Seeler, die am Sonntag die DFB-Ausstellung in Dortmund eröffnen. Wenn sie von Hursts Hemdenflop hören, werden die deutschen Spieler in den Himmel hinaufzwinkern zu Helmut Haller – und unser unvergessenes Schlitzohr aus Augsburg wird sich mit seinem Lausbubengrinsen auf die Schenkel klopfen und den alten Gassenhauer „Souvenirs, Souvenirs“ von Bill Ramsey trällern.

Denn Haller, der bei jener WM das sagenhafte Mittelfeldtrio Haller-Beckenbauer-Overath krönte, hat nach dem Schlusspfiff den Ball geklaut.

Der dreiste Diebstahl ist durch Bilder belegt: Man sieht Haller, wie er mit dem unter den Arm geklemmten Ball in der Loge den Knicks vor der Queen macht. Oder später beim Abschlussbankett, als er die Heiligen Drei Könige der WM ihre Autogramme draufschreiben lässt: Pele, Eusebio und Bobby Charlton. Helmut Haller war ein Meister der Wertanlage. Er spürte: Was er sich da unter den Nagel gerissen hatte, war der berühmteste Ball der Fußballgeschichte – der Ball, der nicht drin war.

Damit kommen wir nochmal zu dieser verdammten, verfluchten 101. Minute. Geoff Hurst schießt, der Ball knallt an die Latte – und nach unten. Vor die Linie? Auf die Linie? Hinter die Linie? Schiedsrichter Gottfried Dienst, ein Postbeamter aus Basel, weiß es nicht. Sein Linienrichter Tofik Bachramov, ein Schnauzbart aus Baku am Kaspischen Meer, weiß es auch nicht, brüllt aber Dienst plötzlich an: „Is gol, gol, gol!“ 3:2. Das Tor des Jahrhunderts ist gefallen, aber nur ein Mensch auf der Welt hat es wirklich gesehen: Heinrich Lübke, unser Staatsoberhaupt. Es ist immer noch kurz nach dem Krieg, und in einer ausschweifenden Mischung aus deutscher Demut, politischer Korrektheit und beginnender Tüteligkeit behauptet der Bundespräsident: „Der Ball war drin.“

Selbst Geoff Hurst ist sich da später weit weniger sicher („Tor? Eher nicht“), und irregulär ist auf jeden Fall sein 4:2, denn bei diesem letzten Konter muss er an englischen Fans vorbeisprinten, die schon feiernd das Spielfeld bevölkern. Dieses Chaos nutzt Helmut Haller zum geistesgegenwärtigen Stehlen des Balles. Daheim in Augsburg schenkt er ihn seinem Sohn Jürgen zum fünften Geburtstag, und der übt mit dem runden Ding so fleißig im Garten, dass er es später zum Bundesligaspieler bringt. Manchmal leiht Papa Haller den Ball auch aus, beispielsweise zu Festen, Ausstellungen und Betriebsjubiläen. Bis sich, dreißig Jahre danach, die Engländer am Kopf kratzen: „Wo ist eigentlich unser WM-Ball?“

„Ich habe ihn nicht“, schwört Hurst. Als dreifacher Finaltorschütze hält sich der von der Königin zum Ritter geschlagene Sir Geoffrey urplötzlich für den rechtmäßigen Besitzer des Balls, und die englische Revolverpresse zieht in den Krieg und startet im Rahmen einer emotional aufgewühlten Kampagne die große Heimholaktion. Im April 1996 ist es schließlich so weit. Hallers Sohn fliegt mit dem Objekt der Begierde nach London, und der Ball wird nach der Landung von Hurst im Blitzlichtgewitter der Kameras geküsst. Danach landet er in einer Vitrine auf der „Waterloo Station“, und gut eingefettet krönt er inzwischen das National Football Museum in Lancashire.

Hatte Haller ein Herz für Hurst? Glaubhafter klingt die These, eine patriotische englische Investorengruppe habe an den pfiffigen Augsburger eine Lösegeldzahlung von 240 000 Mark geleistet, worauf das Boulevardblatt „Sun“ sofort schäumte: „Dieser gierige Kraut.“ So oder so: Helmut Haller war mit dem WM-Ball besser bedient als Hurst mit seinem Trikot. Die Engländer sind als Erfinder des Fairplays offenbar so pingelig, dass sie dieses fragwürdige Hemd nicht einmal mehr mit der Kneifzange anpacken wollen.

Für Sir Geoffrey ist das alles ziemlich blamabel. Und neidisch blickt „Sotheby`s“ nach München, denn anders als in London fanden sich dort neulich problemlos Käufer, als Adolf Hitlers Socken, Eva Brauns burgundrotes Sommerkleid und Hermann Görings seidene Unterhose versteigert wurden.

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WM in Deutschland 1974: „Block E 2, Stehplatz, Preis 15 Mark“

WM in Deutschland 1974: „Block E 2, Stehplatz, Preis 15 Mark“

„Komm mit, Kerle, kriegsch a Kart` fürs Endspiel“, sagte Gotthilf Fischer am 6. Juli 1974. Tags darauf sangen uns die Fischer-Chöre zum WM-Sieg, und der Fischer-Chor-Reporter hatte den perfekten Platz: Direkt vor mir fielen die deutschen Tore – aber am schönsten fiel Bernd Hölzenbein.

Es gibt Dinge, die man sein Leben lang nicht wegwirft. Man steckt sie am Abend des Tages, an dem sie einem wichtig geworden sind, in die Zigarrenkiste mit den unsterblichen Erinnerungsstücken – und kramt sie in stillen Momenten wieder hervor.

Manchmal dauert es dreißig Jahre. Das verstaubte Souvenir, von dem ich hier und heute erzählen will, hat gelitten. Der Zahn der Zeit hat an ihm genagt, womöglich sogar eine verfressene Motte, jedenfalls ist es verknittert und kommt an den Ecken etwas abgerissen daher. „München, 15 Uhr, Block E 2, Stehplatz“, steht auf der Karte. Und das Datum.

7. Juli 1974.

Mein Stehplatz in Block E 2 war, um es vorweg zu nehmen, ein guter Platz. Er hat mich beispielsweise davor bewahrt, die erste Szene des Endspiels um die Fußballweltmeisterschaft 1974 in ihrer vollen Tragweite zu erkennen – schließlich lagen ungefähr hundertdreißig Meter zwischen mir und der Stelle, an der Uli Hoeneß gegen Johan Cruyff das Bein stehen ließ. Natürlich drang die Kunde von der Katastrophe irgendwie doch schnell bis Block E 2 durch: Der Schiedsrichter pfiff Elfmeter, Johan Neeskens schoss, der Lautsprecher gab den neuen Spielstand bekannt, und ich ließ auf meinem Stehplatz den Rüssel hängen bis hinunter zu den Füßen. Doch dann habe ich am Anstoßkreis, der nicht ganz so weit entfernt war, den Müller gesehen, der aufgrund seines mangelhaft ausgeprägten Aberglaubens freiwillig die Unglückszahl 13 auf dem Rücken trug, und mit seiner angeborenen Bierruhe hat der Bomber in die Hände geklatscht und gebrüllt, dass ich es fast bis hoch in Block E 2 hörte: „Auf geht’s, Uli – noch 89 Minuten!“

Das war die eine gute Tat des Gerd Müller an jenem historisch wertvollen Tag. Die andere, zweiundvierzig Minuten später, war sein 2:1. Danach waren wir Weltmeister – und feiern nun heute das 30-jährige Jubiläum, wenn auch etwas gedämpfter als das Wunder von Bern anno `54.

Das war eine andere Geschichte, aus einer anderen Zeit. 1974 sind schon die ersten Millionäre in kurzen Hosen auf dem Platz gestanden – keine ausgezehrten Kriegsheimkehrer mehr, die die wunde Seele eines geplätteten Volks balsamierten. Herbergers Helden hätten, um siegen zu dürfen, damals das Torgebälk noch eigenhändig auf den Platz getragen, mit Sägemehl die Linien gestreut und den Ball aufgeblasen – sie waren noch andere Helden, und ihre Prämien waren noch Kühlschränke, Waschmaschinen und Geschenkkörbe mit Fressalien.

Um es kurz zu machen: Die Holländer waren an jenem 7. Juli 1974 in München besser, sie hatten aber keinen Hölzenbein. Vermutlich war es unser Haken schlagender Hesse, der den Dichter Salman Rushdie später zu den wunderbaren Zeilen inspiriert hat: „Schwalben im Strafraum sind wie ein Taschenspielertrick, aber gute Schwalben sind große Kunst. Eine gute Schwalbe ist wie ein Lachs, der hochschnellt, sich dreht und ins Wasser zurückfällt. Eine gute Schwalbe ist wie das Sterben des Schwans.“

Die von Bernd Hölzenbein gegen die Holländer war derart perfekt, dass ich, obwohl der Spitzbube sich direkt vor meinem Block E 2 hingelegt hat, für einen Moment überlegt habe, ob es überhaupt eine Schwalbe war. Viele Jahre später, anlässlich eines DFB-Jubiläumsbanketts, stand der Schalker Olaf Thon auf der Toilette neben Hölzenbein an der Pissrinne und sagte plötzlich, mitten ins beiderseitige Rieseln hinein: „Bernd, ich glaube, man kann ihn geben.“ Aber so oder so, Hauptsache, der Elfer von Paule Breitner hinterher war drin.

Die Holländer, Hut ab, waren klasse. Doch wir hatten, wie 1954, wieder unseren Seppl, diesmal nicht als Trainer, sondern im Tor, vor ihm hat Berti den großen Cruyff in den Wahnsinn und die Selbstaufgabe getrieben, und Katsche Schwarzenbeck, der Putzer vom Kaiser, ist von Franz Beckenbauer ständig als Fels in die Brandung der holländischen Angriffswellen geworfen worden. Aber vor allem hatten wir unseren „Bomber der Nation“, der in Wahrheit der Abstauber der Nation war – seine Tore fielen stets aus dem Nichts.

Hat am 7. Juli 1974 auch nur einer von uns 80 000 im Olympiastadion den Müller ernsthaft am Ball gesehen, bevor er unmittelbar vor der Halbzeit zuschlug? Als überlebender Augenzeuge aus Block E 2 kann ich den Vorfall heute noch hautnah schildern: Bonhof geht schräg vor meinen Augen steil, drischt den Ball flach und blind nach innen, Müller stoppt ihn mit dem Rücken zum Tor, aussichtslos also, doch plötzlich stellt er seinen schwäbischen Hintern hinaus, dreht sich um die eigene Pobacke, und den Rest hatte er kurz zuvor schon auf Platte besungen: „Dann macht es bumm…“

Wie entfesselt ist sich Block E 2 in diesem Moment kollektiv in die Arme gefallen, und erschöpft von dem grausamen, Nerven zerfetzenden, die ganze zweite Halbzeit anhaltenden Anrennen der Holländer auf das Tor direkt vor unseren Augen sind wir beim Schlusspfiff auf die Knie gesunken wie unser Bomber Müller – leider hat der sich abends beim Bankett im Hilton eine dicke Zigarre angesteckt, mit dem Breitnerpaule um die Wette gepafft und seinen Rücktritt erklärt.

Ansonsten war es aber ein traumhafter Tag.

Schon wegen der Fischer-Chöre, die diesem großen Spiel im Olympiastadion den musikalischen Rahmen gegeben haben und die ich noch dreißig Jahre danach gar nicht genug loben kann – es war nämlich so, dass Gotthilf Fischer am Tag vor dem Spiel die beste Idee seines Lebens hatte. Ein Remstäler wäscht die Hand des anderen, also hat der große Chorleiter zum kleinen Lokalreporter B., der bei seiner Kreiszeitung damals noch Sonderberichterstatter mit dem Schwerpunkt Fischer-Chöre war, kurzerhand gesagt: „Komm mit, Kerle, kriegsch a Kart` fürs Endspiel.“

Und dann auch noch in der Kurve, in der das Tor vom Breitnerpaule und von Bomber Müller gefallen ist, und Hölzenbein über das ausgestreckte Bein von Wim Janssen. Spätestens zum Fünfzigjährigen hole ich die verstaubte Eintrittskarte wieder heraus, und die Enkel werden vor Ehrfurcht Bauklötze staunen: „Du warst dabei, Opa?“

Und wie. Sogar die 15 Mark hat mir Gotthilf erlassen.

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WM in Mexiko 1970: „Ita-lia! Ita-lia!“

WM in Mexiko 1970: „Ita-lia! Ita-lia!“

Das Spiel des Jahrhunderts feiert Jubiläum. Nie war der Fußball wunderbarer und furchtbarer als am 17. Juni 1970: Im Aztekenstadion in Mexiko City steckten sie unserem versehrten Kaiser den Arm in die Schlinge, und daheim war es uns nach dem Strick – zu unerträglich wurden im Laufe der Nacht die Freudenschreie von den Nachbarbalkonen.

Vor ein paar Tagen hat der Chef der Sportredaktion mein Langzeitgedächtnis und meine Eignung für den folgenden Text mit der Frage getestet: „Wo warst Du am 17. Juni 1970?“

Jeder von uns kennt diese historischen Verhöre. Wo warst Du, als Neil Armstrong den Mond betrat? Wo warst Du, als in Berlin die Mauer fiel? Wo warst Du, als die Flugzeuge in die Zwillingstürme in Manhattan flogen?

Wo war ich am 17. Juni 1970?

Daheim im Fernsehsessel bin ich gehockt, wie jeder pflichtbewusste Deutsche, und habe abwechselnd gebrüllt vor Glück und geflucht vor Wut.

Fünfzig Jahre ist es her, aber ich sehe immer noch meinen Vater vor mir, wie er sich mitten in der Verlängerung ans Herz langt und sagt: „Ich muss ins Bett, ich ertrage das nicht.“ Dann ist er geflüchtet und hat mich alleingelassen mit diesem wunderbarsten und furchtbarsten Fußballspiel, das die Welt jemals gesehen hat.

Man muss Italiener sein, um in jener Nacht keine bleibenden seelischen Schäden erlitten zu haben. Wir Deutschen werden mit diesem WM-Halbfinale in Mexiko City, das als Fußball begann und als Folter endete, nie ins Reine kommen, da geht es uns wie Gerd Müller, der am Ende im Gras des Aztekenstadions lag und sich schwor: „Von diesem Spiel will ich mein Leben lang nichts mehr sehen. Ich würde heulen.“

Näher als in jener Nacht sind sich Triumph und Tragödie nie gekommen. Die Gefühle fuhren Achterbahn und Geisterbahn, und das Unbegreifliche ist am Aztekenstadion verewigt mit einer Gedenkplakette, vor der sich die Fußballfans seit fünfzig Jahren verbeugen wie die Pilger in Mekka: „Italia – Alemania. 17 de junio de 1970. Partido del siglo.“ Das Spiel des Jahrhunderts.

Die Dramaturgie des Gruselns und Grauens beginnt in der siebten Minute. 0:1, Boninsegna.

Roberto Boninsegna. Keiner ahnt in dem Moment, dass dieser Name uns Deutsche bald im Schlaf verfolgen wird. Dass er uns schon ein Jahr später wiederbegegnen wird in einer traurigtollen Europacupnacht, in der Günter Netzer das Spiel seines Lebens macht. Mit seinen Gladbachern schießt der “King vom Bökelberg” die amtierenden Weltpokalsieger von Inter Mailand mit 7:1 aus den Schuhen, nur ein Ausfall des Flutlichts könnte die Italiener an dem Abend retten oder der Wurf einer Cola-Dose. Die feuert der Lagerarbeiter Manfred K. dann tatsächlich ab, an den Kopf von Boninsegna, der gerade einen Einwurf macht. Andere schwören, die Büchse habe nur seinen Rücken gestreift. Die Dose war auf jeden Fall leer, aber wie von der Axt erschlagen fällt Boninsegna um. Sieben Minuten lang liegt er regungslos da, das Herbeirufen eines Priesters für die letzte Ölung scheint unumgänglich, und auf der Bahre trägt man den Mausetoten schließlich hinaus. Das 7:1 wird hinterher am grünen Tisch annulliert, Gladbach fliegt raus, Netzers größtes Spiel hat nie stattgefunden, und das übelste Schimpfwort im deutschen Fußball heißt fortan nicht Schauspieler oder Spitzbube, sondern Boninsegna.

Aber das weiß in der siebten Minute am 17. Juni 1970 noch niemand. Man weiß nur, dass es jetzt 1:0 für Italien steht, Tor Boninsegna. Danach stürmt nur noch Deutschland. Schüsse, Kopfbälle, Eckbälle, Querschläger. Facchetti foult Beckenbauer. Im Strafraum stürzt auch Seeler. „Der Sauhund bescheißt uns!“, flucht irgendwann Müller.

Er meint Arturo Yamasaki, den mexikanischen Schiedsrichter. Drei Elfmeter verweigert er den Deutschen und gibt damit die Vorlage für den pfiffigen TV-Spot, den Olli (“Dittsche”) Dittrich später für eine große Elektronikfirma dreht. Er verkörpert darin einen italienischen Toni, wie der normal veranlagte Fußballdeutsche ihn sich vorstellt, glitzernde Goldkette, Mafiasonnenbrille, einen Eimer Gel im Haar und immer einen coolen Spruch auf den Lippen – in dem Fall lacht Toni uns Deutsche dafür aus, dass wir uns vor einer WM immer neue Fernseher kaufen. “Was kaufen die Italiener?”, grinst Toni. “Sie kaufen die Schiedsrichter.”

Jedenfalls wird Yamasaki zum Sargnagel zahlreicher deutscher Bemühungen. Obwohl Beckenbauer nach Facchettis Foul nur noch einen brauchbaren Arm hat (den anderen hat man ihm samt Schulter mit Klebebändern am Körper befestigt), schleppt der Kaiser wie ein Kriegsversehrter Ball für Ball an die Front. „A-le-ma-nia!“, brüllen die Mexikaner. Overath trifft die Latte, einmal tanzt der Ball auf der Torlinie, doch das Bollwerk des Catenaccio hält.

Dann läuft die 90. Minute, und die Italiener rechnen mit allem, nur nicht mit Karl-Heinz Schnellinger. „Carlo“ rufen sie den Kölner, er spielt seit Jahren beim AC Mailand, als Verteidiger. Die Mittellinie überschreitet er dort nie. Doch plötzlich ruft nun von der deutschen Bank einer aufs Feld: „Carlo, vor!“

„Wohin?“, soll Schnellinger noch zurückgerufen haben, denn er kennt sich da vorne nicht aus – aber dann fragt er sich irgendwie durch, schleicht sich vors italienische Tor und macht instinktiv, was er auch hinten immer macht: Mit gestrecktem Bein stürzt er sich in Grabowskis Flanke. 1:1. „Ausgerechnet Schnellinger!“, brüllt Ernst Huberty in sein ARD-Mikrofon. In Deutschland ist es dreiviertel Eins in der Nacht, und es ist das Tor zur Verlängerung. Aber vor allem das Tor zum Verrücktwerden. Was danach passiert, reißt die ganze Welt mit. Mit pochendem Puls dichtet Walter Lutz, der Chefredakteur des Zürcher „Sport“, wie ihn der Wahnsinn übermannt „im faszinierendsten, aufwühlendsten und spannendsten Fußballkampf, den ich je erlebt habe, im mitreißendsten und hochklassigsten Spiel dieses WM-Turniers, in einem Match, in dem in der Verlängerung alle Dämme brechen, sich alle Schleusen großherzig öffnen und in welchem alle fußballerischen Grundregeln über den Haufen geworfen werden.“

Das 2:1 durch Gerd Müller löst die Lawine des Irrsinns. Mit dem Schenkel (oder ist es die Arschbacke?) wurschtelt er den Ball ins Tor, und für die 102 000 Augenzeugen im Aztekenstadion und das weltweite Milliardenpublikum, darunter mich, ist schlagartig klar: Die Italiener sind fertig, ausgelaugt von der dünnen mexikanischen Luft und der Gluthitze, 50 Grad hat es auf dem Platz. Aber stattdessen unterläuft Siggi Held der Fehler seines Lebens. 2:2 durch Burgnich.

Es ist mittlerweile kein Spiel mehr, sondern eine wilde Mischung aus Herzschlag, Hitzschlag und Hitchcock. Ein „Bild“-Reporter lässt sich daheim in der Redaktion an eine Maschine anschließen, die ihm einen Herzschlag von 139 bescheinigt. Als Armstrong den Mond betrat, hatte er 120.

2:3 durch Gigi Riva.

Ich versinke in meinem Sessel. Jeder von uns kennt solche Momente, in denen er vom Glauben abfällt. Und das Unglück wird nicht erträglicher durch das Stakkato der Jubelschreie von den Nachbarbalkonen: „Ita-lia!“

Machen die Italiener uns jetzt vollends fertig? Nein, beschließt Bomber Müller trotzig. Er ist neben dem Brasilianer Pele der Star der WM, neun Tore hat er schon geschossen, und vor Wut macht er jetzt sein zehntes. 3:3. Machtlos steht Gianni Rivera, der Milan-Star, auf der Torlinie und beißt ins Netz. Dann trottet Rivera mit hängendem Kopf zum Anstoß. Angriff der Italiener über links, Ball in den Strafraum.

3:4 durch Rivera.

Schluss. Aus. Als anständiger Deutscher bin ich jetzt fertig mit Gott und der Welt, und in der Nachbarschaft wird das „Ita-lia!“ immer demütigender. Aus Wolfsburg hört man noch, dass die VW-Gastarbeiter den Sieg dort mit Hupkonzerten feiern, und mit dem Schlachtruf: „Kartoffel kaputt. Spaghetti schmeckt gut.“ Es ist halb Zwei in der Nacht – und das einzig Schöne ist, dass der 17. Juni 1970 vorbei ist.

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