Jürgen Klinsmann: „Lass es – du brichst dir das Genick“

Jürgen Klinsmann: „Lass es – du brichst dir das Genick“

Jürgen Klinsmann hat den FC Bayern am 14. November 1987 volley erwischt, rücklings und horizontal. Als Akrobat schööön ist der Stuttgarter Kunstschütze in die Luft gegangen – und nach seinem historisch wertvollen Fallrückzieher fast im Wassergraben der Cannstatter Kurve ertrunken, so besoffen war er vor Glück.

Der Ball fliegt von rechts in den Strafraum, und Jean Marie Pfaff spürt sofort: keine Gefahr. Der Flanke des VfB-Verteidigers Günther Schäfer fehlt es an der nötigen Schärfe, schlaff segelt sie in Richtung Bayerntor, in einem viel zu hohen Bogen.
„Soichboga“, sagen dazu wir Schwaben.

Jean Marie Pfaff ist der Torwart des FC Bayern. Der Belgier gehört in seinem Job zu den Besten, aber vor allem ist er ein alter Hase und weiß: Mit dieser schwindsüchtigen Hereingabe fängt kein Stürmer was an. Seelenruhig lehnt er sich deshalb in Gedanken an den Pfosten und wirft zum VfB-Torjäger Jürgen Klinsmann einen mitleidigen Blick hinüber. „Lass es“, sagt dieser Blick, „du brichst dir das Genick.“

Klinsmann lauert in Erwartung des Balles auf Höhe des Elfmeterpunkts, und auch er weiß sofort: Einen Kopfball kann er vergessen, aussichtslos. Neben Klinsmann steht der Bayernverteidiger Hansi Pflügler, der ebenfalls lange genug im Geschäft ist, um die Harmlosigkeit einer Flanke einschätzen zu können. Pflügler schaltet ab, er sieht völlig unbesorgt aus, ja fast desinteressiert. Oder ist er einfach nur paralysiert in Erwartung des Unfassbaren, das da gerade in der Luft liegt? Wenn man fast ein halbes Leben später die VfB-Vereinschronik „Stuttgart kommt“ liest, ist sein Verhalten dort so verewigt: „Pflügler hat ein ehrfürchtiges Päuschen eingelegt, als wolle er einem historischen Moment seine Referenz erweisen.“

Es ist der historische Moment des Torjägers Klinsmann. Er ist einer von denen, die eine Flanke nicht abhaken, solange der Ball noch fliegt. Er ist kein normaler Stürmer, er ist hungriger und gefrässiger, er kickt und tickt anders als die meisten anderen, und wenn er an einen Ball mit dem Kopf nicht mehr rankommt, macht er halt etwas Kopfloses. Auf Befehl seines Vollstreckerinstinkts biegt sich Klinsmann also geschwind um die halbe Achse, er hebt ab und legt sich in die Horizontale, mit dem Rücken zum Gras, und dann klappt er sich aus wie eine Schere. Das linke Bein zuckt nach unten, das rechte schnalzt gestreckt nach oben, und volley und mit Vollspann drischt Klinsmann den Ball in der nächsten Sekunde unter die Bayern-Torlatte in der Cannstatter Kurve, während er als Hans-guck-in-die-Luft in die entgegengesetzte Richtung nach Untertürkheim schaut. Fassungslos meldet der Lautsprecher: „1:0 für den VfB.“

„Zugabe!“, brüllen die Siebzigtausend im Neckarstadion.

So eine Zirkusnummer haben die Fußballschwaben noch nie erlebt, die Bayernfans schweigen in ihrer Anteilnahme ergriffen, und der Torwart Pfaff und der Verteidiger Pflügler starren sich wortlos an. Ob sie sich anschließend von Klinsmann ein Autogramm geholt oder in Cannstatt die Kirchenglocken geläutet haben, lässt sich im nachhinein nicht mehr zweifelsfrei ermitteln. Aber die Uhren sind auf jeden Fall um 15.49 Uhr stehengeblieben an jenem denkwürdigen 14. November 1987, als Jürgen Klinsmann in der 18. Minute gegen den FC Bayern nachwies, dass man ein Tor notfalls auch so schießen kann.

Erstmals urkundlich erwähnt ist diese hochkomplizierte Abart des Torschusses in verstaubten Schriften aus dem Jahr 1914, einem Chilenen namens Ramon Unzaga soll das Kunststück seinerzeit unfallfrei gelungen sein. Aber egal, wie der Gaucho es damals gemacht hat: Der Fallrückzieher von Klinsmann war zweifellos faszinierender, er war großes Kino, spontan denkt jeder Augenzeuge an die berühmte Filmkomödie „Akrobat schööön“. In Dauerschleife hat das Fernsehen das Wundertor danach wiederholt, vorwärts und rückwärts, mit faszinierenden Zeitlupenbildern und oft genug unterlegt mit heißer Rockmusik, jedenfalls wusste die ARD-Sportschau endlich, warum sie die Wahl zum „Tor des Jahres“ erfunden hat. Es sind nicht die Nullachtfuffzehntore, die sich der Fußball in die Gedenksteine meißelt, sondern die unnachahmlichen. Das Publikum sehnt sich nach dem ästhetischen Hochgenuss der ultimativen Hexereien, bei denen der Akrobat die Genialität mit dem Wahnsinn verknüpft und den Verstand durch den Instinkt ersetzt.

„Ich weiß nie“, gesteht Jürgen Klinsmann nach dem verrücktesten Tor seiner Karriere, „was ich im nächsten Moment mache.“
Seine Idee mit dem Fallrückzieher fanden jedenfalls alle gut, mit Ausnahme aller Münchner. Der VfB hat sie an jenem stimmungsvollen Samstag dann nämlich vollends aus den Schuhen geschossen, 3:0 hieß es am Ende – und um sich eine Wiederholung des demütigenden Moments für alle Zeiten zu ersparen, haben die Bayern dem Klinsmann dann später die Geldpistole auf die Brust gesetzt und ihn sicherheitshalber gekauft.

Allerdings haben sie dabei einen Aspekt fürchterlich unterschätzt: Klinsmann ist Schwabe. Also hat er die Bayern auch dann noch geärgert, als sie dachten, er sei jetzt einer von ihnen. Vermutlich ist er mit dem „Mir-san-mir“-Blabla beim FC Hollywood nicht ganz klar gekommen, oder die Luft wurde dick, wenn er als Bayernstürmer gelegentlich den Eindruck erweckte, dass er seinen Mitspieler Lothar Matthäus für einen Maulwurf der „Bild“-Zeitung hielt. Jedenfalls hat er die Bayern mit seinem schwäbischen Steißbein manchmal derart vor den Kopf gestoßen, dass die Hausfrau Ruth H. vom Tegernsee eines Tages bei ihrer Zeitung anrief und grantelte: „Der Klinsmann, der hinterfotzige Lümmel, gehört raus.“ Einmal hat der Sauschwob, als er mitten im Spiel ausgewechselt wurde, hinter der Seitenlinie auch noch im Jähzorn ein Loch in eine Werbetonne getreten – und die nächste Tonne, in die er um ein Haar ein Loch gestaucht hätte, war dann Uli Hoeneß.

Das war bei Klinsmanns zweitem Kapitel in München, als Bayern-Trainer. Auch das ist nicht ganz friedlich verlaufen, jedenfalls hat der Bayern-Präsident Hoeneß am En de gekocht vor Frust und über Klinsmanns „Mannschaftssitzungen mit Powerpoint-Präsentation“ garstig gelästert: „Da haben wir für zigtausend Euro Computer gekauft. Da hat er den Profis in epischer Breite gezeigt, wie wir spielen wollen. Wohlgemerkt: wollen“. Klinsmann Nachfolger Jupp Heynckes dagegen, schäumte Hoeneß, benötige nur „einen Flipchart und fünf Eddingstifte, mit denen er die Aufstellung des Gegners auf die Tafel malt. Da kostet einer 2,50 Euro. Mit Heynckes gewinnen wir Spiele für 12,50 Euro und bei Klinsmann haben wir viel Geld ausgegeben.“ Vermutlich hätte ihn auch Hoeneß am liebsten als hinterfotzigen Lümmel beschimpft, den wir Schwaben ihm als trojanisches Pferd in den Stall eingeschleust haben, um die Bayern zu untergraben.

Selbst schuld. Denn eigentlich hätte Hoeneß, zumal als gebürtiger Ulmer, schon an jenem historischen Novembersamstag 1987 merken müssen, dass Klinsmann ein unbestechlicher Schwabe ist, mit dem Herz auf dem richtigen Fleck, auf Höhe des Brustrings. Wer zwei Augen im Kopf hat, sagen alle Gefühlsforscher, konnte bei diesem Fallrückzieher doch sofort sehen, was los ist: Die Gnadenlosigkeit, mit der Klinsmann auf Kosten der Bayern vollstreckt, wie er danach brüllend losrennt, am rechten Pfosten vorbei hinters Tor, betrunken vor Glück stürzt er dann in der Cannstatter Kurve fast in den Wassergraben, fällt auf die Knie, schlägt die Hände vors Gesicht und geht mit seinen Gefühlen Gassi. „Ich habe“, sagt er hinterher, „weitergespielt wie in Trance.“
So ein Fallrückzieher ist das Höchste der Gefühle, in solchen Momenten erfüllt sich für den Schützen ein Kindheitstraum. Ein Tor kann ergaunert sein, mithilfe der Hand Gottes erzielt oder aus dem Abseits, es kann ein absurdes Elfmetertor nach einer schäbigen Schwalbe sein oder ein billiger Abstauber – das wahre Glück ist der Fallrückzieher.

Sein Denkmal hat sich Jürgen Klinsmann damit gesetzt. Noch in hundert Jahren, wenn er nicht mehr rücklings sechs Fuß über dem Strafraum liegt, sondern sechs Fuß unter der Erde, wird als Kunstschütze das Kapitel 1 in jeder Gebrauchsanweisung für Fallrückzieher sein – auf jeden Fall aber werden die Überlebenden unter den Siebzigtausend im Neckarstadion bis zu ihrem letzten Atemzug von seinem Hexenwerk schwärmen, ihren Enkeln diese Geschichte hier vorlesen und mit glänzenden Augen sagen: „Ich war dabei.“

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Guido Buchwald: „Hallo, Diego!“

Guido Buchwald: „Hallo, Diego!“

Guido Buchwald hat die Blauen in Degerloch und die Roten in Cannstatt stolz gemacht. Seit dem 8. Juli 1990 trägt er den Künstlernamen „Spätzles-Maradona“ – denn im WM-Finale in Rom hat er den echten Maradona verfolgt und in den Wahnsinn getrieben, bis der Argentinier stöhnte: „You again? Du schon wieder?“

Die Saturn V war die Startrakete bei den Apollo-Flügen auf den Mond, und die Gefühle, die sie damals ausgelöst hat, ähneln denen jedes fußballverrückten Buben – denn auch dessen Träume erfüllen sich dreistufig.

“Zunächst einmal“, erinnert sich Guido Buchwald an seine Kindheit als Dreikäsehoch in Walddorfhäslach, “träumst du davon, Profi zu werden. Danach willst du Nationalspieler werden. Und dann Weltmeister.” Der strebsame Schwabe hat sogar noch die vierte Stufe geschafft: Am Ende nannten ihn alle Diego.

Doch bevor wir hier erzählen, wie Buchwald sich seinen Traum erfüllt hat und zum „Spätzles-Maradona“ wurde, haken wir erst einmal die Kehrseite ab: den Albtraum des echten Diego. Am 8. Juli 1990 im WM-Finale zwischen Deutschland und Argentinien im Olympiastadion in Rom ist er dem Göttlichen widerfahren, und von Minute zu Minute wurde die Qual unerträglicher. “Am Anfang war er noch gut drauf“, weiß Buchwald, “aber dann wurde er immer gereizter.”

Diego Maradona wurde zum Opfer der üblen Laune. Der Argentinier war der größte Fußballer seiner Zeit, trotz seiner nur Einssiebzig mit Stollen, doch im Lauf des Spiels, berichtet sein schwäbischer Peiniger, “ist er immer kleiner geworden.” Und irgendwann, nach einem weiteren verlorenen Zweikampf, hockte der entzauberte Magier am Boden, schüttelte den Kopf – und nie, grinst Buchwald, wird er diesen Anblick vergessen, als der kleine, große Gaucho sein komplettes Englisch zusammenklaubte und resignierend zu ihm hochstöhnte: “You again?” Du schon wieder?

Mehr Kapitulation geht nicht. Kampfunfähiger hat auch Joe Frazier nicht dreingeschaut, als er anno `75 beim „Thrilla in Manila“ gegen Muhammad Ali auf seinem Pausenhocker sitzenblieb. Doch der Ritterschlag, lacht Buchwald, war dann vollends, “als der ARD-Reporter Rubenbauer im Fernsehen rief: Unser Diego!“

Der wahre Urheber des Kosenamens war allerdings, Ehre, wem Ehre gebürt, ein anderer Bayer: Klaus Augenthaler, der deutsche Abwehrchef. Vor der WM damals, im Trainingslager, schlenzte Buchwald dem einmal den Ball filigran durch die Beine, und Augenthaler blieb die Spucke weg, und er schrie: “Hallo, Diego!“ Durch das WM-Finale, sagt Buchwald, habe sich das geflügelte Wort “dann vollends verfestigt“ – und wenn er heute, ein halbes Leben später, in Stuttgart spazieren geht, kommt es vor, dass von der anderen Straßenseite wildfremde Menschen rufen: “Hallo, Diego!”

“Verdammt lang her” kann man da mit Wolfgang Niedecken und BAP nur singen, doch Buchwald sieht immer noch aus wie damals in Rom – fit wie ein Turnschuh kommt er daher, beim Aufstehen braucht er noch keinen Kran, man muß ihm noch kein Affenblut und keine Ameisensäure gegen die Gicht spritzen, er riecht nicht ranzig, wirft keine Falten und steht glaubhaft Modell für die These in `Wikipedia`: “Er gilt als einer der besten Defensivspieler der deutschen Fußballgeschichte.”

Auf jeden Fall ist Buchwald einer der ewigen Volkshelden des deutschen Fußballs, seit er den Größten zum laufenden Meter schrumpfen ließ. Auch sein Gedächtnis ist noch bestens intakt, und die Erinnerungen an das damalige WM-Camp des DFB in Erba am Comer See: „Es war wie ein Schlössle, und mein Zimmer würde ich heute noch finden, Nummer 14. Auch die Stimmung war klasse, der Teamchef hat uns an der langen Leine geführt. Gehts ruhig mal raus, hat der Franz gesagt. Das Essen beim Italiener im Dorf, der schöne See, das tolle Wetter, wir haben alles genossen.“

Vor allem er.

Bis dahin galt Buchwald als langer Eckiger und als nimmermüdes Laufwunder, rustikaler Ärmelhochkrempler, Wachhund, Wasserträger, Balleroberer und Zerstörer, notfalls hätte er auch einen Flugkopfball gegen die Bordsteinkante gemacht, aber er konnte wesentlich mehr. Einmal, als gegen Holland das deutsche WM-Glück auf des Messers Schneide stand, tauchte er plötzlich im gegnerischen Strafraum auf. Gleich bricht er sich das Bein, dachten alle, doch stattdessen: Übersteiger, Zuckerpass zu Jürgen Klinsmann, einsnull.

Der Blaue zum Blauen, jubelte daheim ganz Degerloch, während Cannstatt stolz war auf seine VfB-Helden. Klinsmann war mittlerweile zwar bei Inter Mailand tätig, aber das Tor schoss er als Schwabe. Und Buchwald machte im Endspiel dann Maradona platt und wurde zum besten Sechser der Welt. “Guido war der wichtigste Spieler des Turniers”, sagte Beckenbauer, “er war sieben Mal Weltklasse.”

Ausgerechnet Buchwald. Vier Jahre zuvor, vor der WM 1986, hatte der Teamchef den Schwaben in der Sportschule Kaiserau im letzten Moment aussortiert. “Als er auf mein Zimmer kam, ist die Welt in mir zusammengebrochen”, erinnert sich der Verschmähte. “Man hört da gar nicht mehr zu, man ist einfach nur fertig.”

Hat Beckenbauer es später bedauert?

“Seine Frau hat zu meiner jedenfalls einmal gesagt: Es tut dem Franz leid.”

Heute kann Buchwald darüber lachen. Das Glück hat bei ihm halt vier Jahre länger gebraucht – aber nach dem Finale in Rom hat er sich bei Beckenbauer dann doch mit dem neckischen Piekser revanchiert: “Weltmeister hättest Du mit mir auch 1986 schon werden können.“

Ja, sie hätten ihn schon da dringend gebraucht, in jenem ersten WM-Finale gegen Argentinien in Mexiko City. Denn Maradona war zu der Zeit schier unbremsbar mit dem Allmächtigen im Bunde, der hielt die “Hand Gottes” über ihn, und ein Kritiker schwärmte: “Er ist der Picasso unter Anstreichern.” Entsprechend endete das WM-Finale: Maradona zu Burruchaga, 2:3, kurz vor Schluss, ins Messer sind die Deutschen gelaufen. „Wir hätten einfach in die Verlängerung gehen und dort unsere körperlichen Vorteile ausspielen sollen”, ärgert sich Vorstopper Karlheinz Förster als VfB-Beteiligter heute noch. Aber noch besser wäre es gewesen, Buchwald schon damals dabei zu haben.

Noch ein zweites Mal ist Maradona dem Zugriff Buchwalds glücklich entkommen, 1989 im UEFA-Cupfinale zwischen dem VfB und Neapel. Im Hinspiel sah Buchwald gelb und war im Rückspiel gesperrt. Aber im Jahr darauf, beim WM-Finale in Rom, war das Glück des Argentiniers aufgebraucht. „Dein Mann ist die Nummer 10”, sagte Beckenbauer vor dem Spiel zu Buchwald. Und basta.

Für Maradona war es ein grausamer Tag. Mehr als 30 000 deutsche Schlachtenbummler schlängelten sich in Karawanen über die Alpen, und im Olympiastadion in Rom gesellten sich dazu noch die einheimischen Tifosi, denn die Argentinier hatten im Halbfinale die Träume der Italiener zerstört. Buchwald: “Auf dem Weg ins Stadion hingen überall deutsche Fahnen aus den Fenstern”. Das Publikum stand unter Starkstrom, als gelernter Elektriker weiß Buchwald, wovon er da spricht – aber vor allem er war heiß. “Es war”, sagt er, “das wichtigste Fußballspiel meines Lebens. Vizeweltmeister war Deutschland oft genug geworden, das musste nicht wieder sein.”

Also hat er Maradona aus dem Spiel genommen, der beste Fußballer der Welt konnte sein würziges Süppchen nur auf Sparflamme kochen. Und Andy Brehme, der spätere Co-Trainer des VfB, erledigte per Elfmeter vollends den Rest. Nur einen Zweikampf hat der glorreiche Guido an dem Abend verloren, den gegen Frank Mill, der sich nach einem Sprint von der Ersatzbank Maradonas Trikot schnappte. Für Buchwald blieb als Skalp das Hemd von Jose Basualdo, seinem damaligen Mittelfeldkumpel beim VfB.

Wo ist das heute?

“Ich weiß nicht, vielleicht in einem Koffer auf der Bühne.“

Und Ihre Endspielstiefel, die Großes vollbrachten: Im Museum?

“Keine Ahnung”, sagt Buchwald.

Ach, was könnte er ohne seine falsche Bescheidenheit für heldenhafte Geschichten erzählen. Aber als stiller Schwabe und leiser Genießer hat er sich nie ein Schild vor die Brust gehängt, auf dem steht: Guido Buchwald, Weltmeister. Nach dem Finale ist aber auch er kurz steil gegangen, “da haben wir in Rom die Nacht zum Tag gemacht, und unsere Frauen mussten schauen, dass wir morgens den Bus zum Flughafen nicht verpassten.” Das große Gefühl, Geschichte geschrieben zu haben, möchte Buchwald nicht missen – aber eine Zeit lang, sagt er, war sein Kampf gegen den Ruhm nicht viel einfacher als sein Zweikampf mit Maradona.

“Man ist Weltmeister und steht voll im Focus. Vorher war man ein normaler Mensch, der Jeans trug, und plötzlich wird man genau beobachtet: Was hat er an? Ich konnte mich nicht mehr frei bewegen.” Einmal, er vergisst es nie, ging er mit der Frau und den Söhnen Yannick und Julian auf der Königstraße in Stuttgart spazieren. Autogrammjäger bestürmten ihn, und er schrieb und schrieb – bis dem kleinen Julian irgendwann der Kragen platzte: “Du bist doch mein Papa”, rief der Bub zornig, “und nicht der Papa von denen!”

Aber so ist das halt, wenn der Papa auf dem Mond des Fußballs landet, plötzlich Weltmeister ist und alle Diego sagen. Als deutscher A-Jugendmeister mit den Kickers war Buchwald noch einfach der Guido, aber am Ende hat er alle vier Stufen gezündet und ist mit dem VfB nicht nur 1984 Deutscher Meister geworden, sondern hat die Roten in der letzten Minute der Saison 91/92 in Leverkusen auch nochmal persönlich zum Titel geköpft. Als abschließende Stufe fehlt jetzt nur noch ein Bildhauer, der in sein Denkmal die passenden zwei Worte hineinmeißelt: „Hallo, Diego!“

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Philipp Lahm: „Hör jetzt gut zu, Felix, ich hab Dir da einen“

Philipp Lahm: „Hör jetzt gut zu, Felix, ich hab Dir da einen“

Philipp Lahm ist als Turnierdirektor der EM 2024 nirgends so herzlich willkommen wie in Stuttgart. Unter allen Beute-Schwaben ist der Bayer der Berühmteste: Womöglich hätte seine Karriere als Weltstar ohne den VfB nie begonnen – genauer gesagt: ohne diesen Telefonanruf im Mai 2003.

Im Mai 2003 griff Hermann Gerland aufgeregt zum Telefon. Viel hat nicht gefehlt, und er hätte die „911“ angerufen.

Jedenfalls war es ein Notruf.

Gerland trainierte seinerzeit die zweite Mannschaft des FC Bayern, und das Schicksal eines seiner Spieler brachte ihn schier um den Schlaf. Der junge Mann war neunzehn, die Bayern trauten ihm den großen Sprung noch nicht zu, aber Gerland spürte: „Es wäre eine Schande gewesen, wenn er weiter in der Regionalliga hätte spielen müssen.“

Zur Klarstellung: Gerland war keiner, der ein Talent vorschnell mit den höheren Weihen verwöhnte. Grundsätzlich war er eher ein skeptischer Grantler, einmal entfuhr ihm sogar der Satz: „Von den heutigen Profis traut sich im Dunkeln keiner mehr auf die Straße.“

Aber dieser Neunzehnjährige war anders. Das war einer wie er, und wie der Bundesligaverteidiger Gerland früher war, beschreibt der Extorjäger Jupp Heynckes in der Erinnerung mit Grausen: „Die offenen Wunder am Schienbein habe ich immer noch.“ Man nannte Gerland den „Tiger“, er war bissig und hungrig – und als er als Trainer jetzt sah, dass dieser Neunzehnjährige darüber hinaus auch noch richtig Fußball spielen konnte, bot er ihn quer durch die Bundesliga an. Er holte sich von den vielen Absagen fast ein wundes Ohr – bis er an Felix Magath geriet, der damals den VfB trainierte.

„Hör jetzt gut zu, Felix“, sagte Gerland, „ich hab Dir da einen.“

Magath wusste: Der Tiger lügt mich nicht an. Sie tickten auf einer Wellenlänge, sie liebten beide den Medizinball als Trainingsinstrument, und als Gerland erzählte, dass der junge Mann auch noch einen starken Charakter hat, vergaß Magath den bettelarmen Zustand des VfB und ging mit dem Hut sammeln, um die cirka 100 000 Euro Leihgebühr zusammenzukratzen. So fing im Sommer 2003 die Karriere des Philipp Lahm an.

Die Folgen sind bekannt: Bester Verteidiger der Welt, Weltmeister, Klub-Weltmeister, Champions-League-Sieger, achtmal Deutscher Meister, sechsmal DFB-Pokalsieger, Fußballer des Jahres, Kapitän der Nationalmannschaft, 113 Länderspiele, 385 Bundesligaspiele. Andere sind jedes Jahr ein paar Wochen lang Klasse, aber Lahm war Woche für Woche Klasse, Spiel für Spiel. Hinten war er ein Wadenbeißer und weiter vorne ein Virtuose am Ball, er war Verteidiger und Außenstürmer, und die Kalklinie hat gestaubt, wenn er sich beim Auf und Ab da draußen am Flügel ständig unterwegs selbst begegnete.

„Er ist der intelligenteste Spieler, den ich je trainiert habe“, behauptet Pep Guardiola, und der Spanier hat immerhin Lionel Messi trainiert – dass er den späten Lahm beim FC Bayern dann auch noch zum Spielaufbauer im zentralen Mittelfeld machte, war vollends der Ritterschlag.

Lahm zieht auch heute noch die Fäden, inzwischen als Turnierdirektor der EM 2024. „Wir wollen“, sagt er, „ein Fest veranstalten, das einen Aha-Effekt hat.“ Das WM-Sommermärchen von 2006 will er wiederholen, und um das Wir-Gefühl und den gesellschaftlichen Zusammenhalt wiederzubeleben, krempelt er wie seinerzeit die Ärmel hoch, spuckt in die Hände und ruft in Richtung Nationalmannschaft: „Es muss wieder in die Köpfe der Spieler, dass sie ihr Land vertreten und als verschworene Einheit auftreten.“ Das hat er in den letzten Jahren vermisst – „dass sich einer für den anderen auf dem Platz aufopfert.“

Voller Wehmut erinnern sich an Philipp Lahm alle Fußballdeutschen – und voller Wehklagen seine Gegenspieler.

Fragen Sie Nuno Capucho. Der Portugiese befand sich bei den Glasgow Rangers in der Blüte seines Stürmerlebens, als er auf den jungen VfB-Lahm traf. In der Champions League war das, früh im neuen Jahrtausend, und für Capucho wurde der Abend zum Albtraum. Da hatte er jahrelang die besten Verteidiger der Welt vernascht, sie schwindlig gedribbelt, sie gemütskrank gespielt, aber um Lahm kam er kein einziges Mal herum. Wenn Capucho ausholte, um aufs VfB-Tor zu schießen, war der Ball immer schon weg – und der kleine Lahm damit auf und davon.

In der üppigen VfB-Geschichte ist kein Rechtsfüßler urkundlich erwähnt, der an der linken Kalklinie mit dem falschen Bein auch nur annähernd so gut zu Fuß war wie Lahm. Erstaunlich war seine Ballsicherheit und Übersicht, selbst in höchster Bedrängnis brachte er die Kugel noch durch die hohle Gasse zum Nebenmann. Und wenn jeder gewettet hätte, dass Lahm gleich einen Haken nach innen schlägt, um mit rechts zu flanken, machte er stattdessen seinen Bauerntrick, wuselte außen vorbei bis zur Torauslinie – und alles mit links.

Auf der verkehrten Position musste Lahm anfangs noch spielen, aber im Kopf stimmte von vornherein alles. Einmal war er im ZDF-Sportstudio und erzählte, dass er nicht zu denen gehört, die einen Hofstaat aus Beratern beschäftigen. „Mir helfen“, sagte er, „zwei Freunde.“ Andere Jungstars ließen sich längst fernsteuern von Ratgebern aller Art, die ihnen beim Vertragspoker auch noch Schlechtwettergeld und ein beheizbares Trikot herausholten, aber Lahm war Lahm. Er entsprach nicht dem Klischee des verwöhnten Jungdotters unter den Weicheiern.

Kurz: Er war genau der Richtige für den VfB, der sich zu der Zeit nur angehende Weltmeister leisten konnte, die nichts kosten. Jedenfalls war er einer der Fälle, in denen der VfB die Fehler, die sich der FC Bayern in jedem Jahrzehnt einmal erlaubt, brutal ausnutzt. 1984 hießen diese Fehler Sigurvinsson und Niedermayer, und 1992 war es der kleine Kögl, der als Trickerl-Wiggerl alles schwindlig gekögelt und am Ende der Saison den Ball noch an die Birne von Buchwald gezirkelt hat – und, batsch, war der VfB wieder Deutscher Meister.

Diesmal also Lahm. Zwei Jahre war er da, ehe die Bayern ihren Fehler rückgängig machten. Meister ist der VfB zwar nicht ganz geworden, aber für Champions League-Feste hat es gereicht, und der Hochbegabte startete senkrecht durch, vorbei an allen Bedenkenträgern und Zweiflern, oder sagen wir es mit Gerland: „Für einige war er zu leicht.“

Und der Längste war Lahm ja auch nicht. Es war später immer wieder ein witziges Bild, wenn die Fernsehkamera bei der Nationalhymne plötzlich vom Torwart Neuer mit einem ruckartigen Schwenk zwei Köpfe tiefer ging, hinunter zum DFB-Kapitän Lahm, der dort mit Hingabe sein „Blüh im Glanze dieses Glückes, blühe, deutsches Vaterland“ vor sich hingeschmetterte.

Die Kleinen haben, so dicht über der Grasnarbe, kein leichtes Leben. Humphrey Bogart hat sich früher eine Sprudelkiste oder das Telefonbuch von New York unter die Füße schieben lassen, um in „Casablanca“ zu Ingrid Bergman sagen zu können: „Schau mir in die Augen, Kleines“. Und oft genug hört man fragwürdige Scherze. Kennen Sie den? Die deutschen Exweltmeister Hässler, Littbarski und Thon, alle um die Einssechzig, klettern auf einen Barhocker. „Drei Kurze“, sagt Litti. Darauf der Wirt: „Das sehe ich. Und was wollt ihr trinken?“

Die Kurzen rächen sich dann auf ihre Art: Als Charlie Chaplin, Woody Allen, Frank Sinatra und Dustin Hoffmann nicht mehr wuchsen, beschlossen sie, Weltstar zu werden. Und die Fußballer zeigen, dass in der Kürze die Würze steckt, indem sie Weltmeister werden, siehe Maradona, Messi und Lahm. Der hat sich, wenn es um die Wurst ging, die hohen Stollen unter die Stiefel geschraubt und ist über sich hinausgewachsen mit der Devise: Je kleiner der Kerl, desto größer der Ehrgeiz.

Philipp Lahm hat sich nie unterkriegen lassen. Er ist den gewaltigsten Riesen über den Kopf gewachsen und kann sich eines fernen Tages getrost in den Grabstein meißeln lassen: „Er war schmächtig, aber mächtig.“ Sein Zeuge ist Michael Ballack. Der war in der Nationalmannschaft jahrelang der hünenhafte „Capitano“, aber als er sich vor der WM 2010 verletzte und im Gipskorsett lag, war Lahm sofort bereit für die Machtergreifung, Viele dachten spontan an den einstigen Nationallinksaußen Dieter Eckstein, der beim 1. FC Nürnberg unter drei cirka einsfünfundsechzig großen Präsidenten gespielt hatte und fortan behauptete: „Die Kurzen mit den hohen Absätzen sind gefährlich.“

Lahm hat sogar Kopfballtore gemacht, ohne vorher weinerlich nach einem Schemel zu rufen, er hatte diesen eisernen Willen. „Im Schnitt schieße ich bei der Nationalmannschaft etwa alle zwei Jahre ein Tor“, hat er einmal glaubhaft erzählt, aber bei der WM 2006 schoss er im Eröffnungsspiel dann gleich das erste. Endstand: 4:2 gegen Costa Rica. Lahms traumhafter Schlenzer, hoch ins Eck, war der Startschuss ins anschließende Sommermärchen.

In Stuttgart, seinem Geburtsort als Fußballstar, ist das glorreiche Turnier damals passender Weise zu Ende gegangen, erst im Hotel Graf Zeppelin und dann im Stadion. „Es gab während der WM 2006 viele unglaublich schöne Erlebnisse“, erinnert er sich in stillen Stunden, „am beeindruckendsten aber war, als wir zum Spiel um Platz drei nach Stuttgart gekommen sind.“ Eigentlich war die Luft raus. Unglücklich hatte das DFB-Team das Halbfinale gegen Italien verloren, und jeder Versuch der nochmaligen Motivation war so gut wie aussichtslos.

„Und dann“, hat Lahm den Schlüsselmoment später der „ZEIT“ detailliert geschildert, „kommen wir nach Stuttgart. Ich glaube, unser Bus hatte zwei Stunden Verspätung. Es gab einen Platzregen, es hat geschüttet ohne Ende und trotzdem haben, ich tippe mal, 15 000 Fans vor unserem Hotel gewartet und uns zugejubelt. Das war ein unglaubliches Gefühl. Unten wurden die Straßen abgesperrt. Wir waren dann abends um zehn Uhr oben bei den Physiotherapeuten, und die Leute haben draußen immer noch bis in die Nacht hinein gesungen. Das war Wahnsinn. Das hat uns nochmal die Motivation gegeben, so ein gutes Spiel um Platz drei hinzulegen.“

3:1 gegen Portugal. Auch Cristiano Ronaldo fand keine Antwort, der angehende Superstar fühlte sich bitter erinnert an den 1. Oktober 2003. Sein erstes Champions-League-Spiel hatte der Portugiese an jenem Abend gemacht, im Dress von Manchester United gegen den VfB, und schon damals war er wie gelähmt ob der Anwesenheit von Lahm. Nur einmal wurde es eng, Lahm traf in höchster Rettungsnot den VfB-Pfosten, von dort sprang der Ball zu Ronaldo, der stürzte im Zweikampf mit VfB-Torwart Timo Hildebrandt, und Ruud van Nistelrooy verwandelte den Elfmeter zum 2:1. Dabei blieb es, in einem der größten Spiele in der Geschichte des VfB. „Heute war alles perfekt“, sagte Felix Magath – und wenn nicht erstunken und erlogen ist, was man hört, hat der Trainer sich in jener Nacht vor dem Spiegel selbst gegrüßt und beglückwünscht für seine weise Voraussicht in Sachen Lahm.

Philipp Lahm ist in Stuttgart jedenfalls immer herzlich willkommen, und wenn Not am Mann ist, greift der alte Beute-Schwabe dem VfB auch heute noch unter die Arme. 2022 hat ihn der VfB-Vorstandsvorsitzende Alexander Wehrle als Berater engagiert, und von wöchentlichen, virtuellen Sitzungen war die Rede, und dass Lahm seine „Erfahrung und Expertise“ (Wehrle) einbringt. Auf der Tribüne sah man Lahm eher selten, was aber zu verkraften war, denn er sieht mit dem Fernglas aus München mehr als andere, die in Stuttgart im Stadion sitzen. „Mit meiner Beratung“, versprach Lahm, „will ich dazu beitragen, dass der VfB wieder ein Verein ist, der viel öfter gewinnt als verliert.“

Jedenfalls ist der VfB danach nicht abgestiegen.

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WM in England 1966: „Ich habe die Beleidigung an seinem Gesichtsausdruck abgelesen“

WM in England 1966: „Ich habe die Beleidigung an seinem Gesichtsausdruck abgelesen“

Rudolf Kreitlein wurde bei der WM 1966 als „tapferes Schneiderlein“ berühmt. Er wollte den Argentinier Rattin vom Platz stellen, aber der stellte sich dumm und ging einfach nicht. Aus Notwehr wurde Kreitlein zum Revolutionär – und erfand tags darauf die gelbe und rote Karte.

Auf die Risiken einer Fußball-WM muss man sich als Journalist gewissenhaft vorbereiten. Deshalb war ich vor dem Abflug nach Südafrika jetzt noch schnell beim Doktor, um mich gegen Seuchen impfen zu lassen, aber auch im Stuttgarter Theaterhaus, um mich gegen Schiedsrichter impfen zu lassen.

„Schiedsrichter Fertig“ heißt das Stück, das dort zurzeit läuft. Thomas Brussig hat es geschrieben, und es ist ein wunderbares, aber fast tragikkomisches und trauriges Stück – über arme Kerle, die hin und her rennen, kein Tor schießen dürfen und keinen Beifall erhalten.

Auf der zu einer Umkleidekabine umdekorierten Bühne schlüpfen drei Schauspieler in die Haut von Schiedsrichter Uwe Fertig und seiner zwei Linienrichter. Kurz vor dem Anpfiff zetern sie miteinander über ihr unmenschliches Los, da draußen gleich wieder als Pfeifen im Regen zu stehen und an die Wand gestellt zu werden als schwarze Sau, sie zerreißen sich das Maul über die Spitzbuben und Schwalbenkönige, von denen sie schamlos hereingelegt werden – also kurz gesagt zeigen sie uns, wie man sich als Schiedsrichter vor dem Anpfiff dafür in Stimmung bringt, von achtzigtausend ausgepfiffen, angepöbelt, beschimpft, bebrüllt, beleidigt, bedroht und auf alle erdenkliche Arten massakriert zu werden.

Warum sie es trotzdem tun?

Bei der Antwort klopft sich Uwe Fertig mit einem fiesen Rächerblick brüllend auf die Schenkel: Als schlauer Schiedsrichter kann man trotzdem unsterblich werden – es genügt schon ein fragwürdiger Pfiff, mit denen man die Fußballwelt auf die Palme bringt.

Die lebenden Beweise für diese Pointe des Bühnenstücks begegnen einem fast täglich. In verblüffender Regelmäßigkeit, die kein Zufall mehr sein kann, führen pfiffige Schiedsrichter die berühmtesten Fußballstars der Welt wie Tanzbären am Nasenring derart durch die Manege, dass ich hier spontan den derben Scherz vom Teufel erzählen muss. Der fragt Petrus am Telefon, ob er sich nicht eines fernen Tages einmal ein packendes Fußballspiel Himmel gegen Hölle vorstellen könne, worauf Petrus ihn warnt: „Gerne, aber Ihr werdet chancenlos sein, denn für uns spielen dann alle Götter, Pele, Maradona, Beckenbauer…“

„Aber wir“, unterbricht ihn feixend der Teufel, „haben die Schiedsrichter.“

Wahr ist auf jeden Fall eines: Besonders selbstbewusste Schiedsrichter, die etwas auf sich halten, weisen an ausgesuchten Tagen nach, dass sie für ein erfülltes Leben ein gewisses Gefühl für die Macht unbedingt brauchen, vor allem in Form des Zückens gelber und roter Pappendeckel, mit denen sie ungestraft die höchstbezahltesten Millionäre in kurzen Hosen stramm stehen lassen.

Womit wir endlich zum Thema kommen: Wer hat diese Karten erfunden?

Für die Antwort darauf muss man, wenn man vom Stuttgarter Theaterhaus am Pragsattel kommt, nicht mehr weit fahren. Runter in die Stadt und dann hoch nach Degerloch, dort lebt der Gesuchte als Kultfigur: Rudolf Kreitlein.

Ich habe einmal neugierig bei ihm an der Tür geklingelt, und er ließ mich in seine dicken Ordner schauen, in die er die Zeitungsartikel vom wichtigsten Tag seines Lebens hineingeklebt hat. Bis dahin war er nur ein kleiner Schneidermeister, aber mit einem einzigen Pfiff ist er bei der WM 1966 dann über Nacht als „tapferes Schneiderlein“ weltberühmt geworden. „Auch meine Schiedsrichterkluft war selbstgemacht“, hat mir Kreitlein erzählt – und anschließend die Geschichte mit Rattin.

Im Viertelfinale war das. In Wembley traf England auf Argentinien, und irgendwann hat Antonio Rattin, der Kapitän der Gauchos, den deutschen Schiedrichter von oben herab angeschaut. Rattin war ein Riese, und Kreitlein nur ein laufender Meter, aber dafür saß er am längeren Hebel. Weil die beiden sich aufgrund weltsprachlicher Mängel zu einer verbalen Klärung der heiklen Situation nicht in der Lage sahen, hat Kreitlein in der Not „an Rattins Gesichtsausdruck abgelesen“, dass der ihn beleidigt hatte – und „mit der Gestik eines Burgschauspielers“, notierte später ein Augenzeuge, versuchte der kleine Mutige den Pampariesen des Feldes zu verweisen, in Form fuchtelnder Bewegungen des Armes und flankiert vom gezückten Zeigefinger. Aber Rattin ließ sich nicht verscheuchen. Nix verstehen, deutete er an, nur Bahnhof. Erst nach siebenminütigen Tumulten gelang es bewaffneten Londoner Bobbies schließlich, den verständnislosen Argentinier abzuführen.

„Wir müssen etwas finden, damit Spieler und Zuschauer unsere Entscheidungen besser verstehen“, hat Kreitlein hinterher zum englischen FIFA-Schiedsrichterchef Ken Aston gesagt, der ihn schon während der Rudelbildung auf dem Platz unter vollem Einsatz seines imposanten Körpers vor dem Schlimmsten bewahrt hatte. Der Sage nach musste Aston dann am selben Abend bei der Heimfahrt durch London an einer Ampel halten, schlagartig durchfuhr ihn der gelbrote Geistesblitz, und anderntags war für Aston und Kreitlein klar: Verwarnungskarten müssen her. So wird nun seither wie der Verkehr auch der Fußball geregelt.

Als tapferes Schneiderlein und wegweisender Gelbrot-Pionier ist Kreitlein letztes Jahr zu seinem neunzigsten Geburtstag vom Bundespräsidenten ins Schloss Bellevue eingeladen worden, zum Abendessen und zur feierlichen Entgegennahme des Bundesverdienstkreuzes. In dessen Genuss kommen normalerweise nur handverlesene Deutsche, aber in seltenen Fällen kriegt es auch einmal ein schwäbischer Tüftler, der mit einer genialen Erfindung verhindert hat, dass der Fußball an seinen Missverständnissen und Tumulten auf dem Platz zugrunde geht.

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Verletzungen im Fußball: „Khedira führt, knapp vor Ihnen“

Verletzungen im Fußball: „Khedira führt, knapp vor Ihnen“

Der Knall ist kurz. Es macht plopp und peng, die Achillessehne ist durch, der WM-Traum hängt plötzlich in der Luft wie der Wadenmuskel – und unversehens gerät man als Journalist in einen Wettlauf mit drei Fußballstars, die Weltmeister werden wollen.

Die folgende Kolumne ist aus medizinischer Sicht lebensgefährlich – sie kann zu einer Thrombose führen.

Doc Frölich macht sich jedenfalls große Sorgen. Alle paar Tage legt er die Stirn in Runzeln, mustert streng den geschwollenen Fuß mit der rötlich schimmernden Wunde und fragt sich, ob ich mich an seine heilsamen Verordnungen wirklich halte. “Geben Sie sich”, will er wissen, “immer pünktlich die Spritze?”

“Jeden Abend”, nicke ich, “mal rechts vom Nabel, mal links.”

“Nehmen Sie die Tablette?”

“Vorschriftsmäßig”, schwöre ich.

“Und das Bein”, bohrt er weiter, “legen Sie es immer schön hoch?”

“Ja”, lüge ich.

Zur Grundstellung eines Journalisten gehört es, beim Schreiben den Fuß unter dem Tisch zu haben, aber mein Doktor will unbedingt, dass ich ihn auf den Tisch lege und meine Kolumnen in den kommenden Wochen mit gestrecktem Bein formuliere. Wenn beim Fußball einer mit dem gestreckten Bein daherkommt, zieht der Schiedsrichter aus der Hose sofort die Arschkarte: glatt Rot. Doch Dr. Thomas Frölich denkt anders. Rein in einen Sessel, befiehlt er mir, Laptop auf den Bauch, ein paar dicke Kissen auf einen Schemel und das malade Bein drauf, und zwar so, dass der Fuß auf Herzhöhe liegt. Wenn ich dann zaghaft einwende, dass keine Kolumne solche Verrenkungen aushält und ich mir vorkomme wie ein Einarmiger beim Einwurf, sagt er nur: “Wollen Sie nun zur WM – oder nicht?”

Alles ist gebucht. Sepp Blatter hat meine Anwesenheit in Brasilien amtlich genehmigt, der Flug ist am 7. Juni, meine Hacienda beim DFB-Hotel „Campo Bahia“ in Santo Andre gleich um die Ecke, und Jogi Löws Zauberer legen größten Wert darauf, dass ich komme, denn bei meinen neun WM-Teilnahmen sind wir zweimal Weltmeister, zweimal Vizeweltmeister und zweimal Dritter geworden. Und ausgerechnet jetzt dieser herbe Rückschlag. Ich leide wie Michael Ballack, der vor der WM vor vier Jahren in Südafrika in Gips gelegt wurde, oder wie Sami Khedira jetzt nach seinem Kreuzbandriss.

Man sollte kurz vor einer Fußball-WM als Journalist nicht mehr Tennis spielen und schon gar nicht mit einem pfeilschnellen Schritt nach links zu einer spektakulären Rückhandpeitsche ansetzen. Plopp hat es gemacht, einfach plopp. Vielleicht war es auch ein Peng, jedenfalls war es ein jäher Knall, und dank der Gnade der frühen Geburt wusste mir sofort klar: Genau so war es auch bei Uwe, am 20. Februar 1965, Waldstadion, Eintracht gegen den HSV, 56. Spielminute. Anderntags, frisch operiert, sagte Uwe Seeler: “Ich dachte, da unten hat mich ein Elefant getreten.”

So ein Achillessehnenriss kann einen Ochsen töten, ich schwöre es. Man fällt um wie erschlagen, spürt zunächst einen ekligen Schmerz, sehnt sich nach der Vollnarkose, das Bein hat keine Kontrolle mehr, der Wadenmuskel hängt haltlos im Nichts, und das auch noch in Amerika. Hinkend habe ich mir eine Mullbinde und einen Stützstrumpf besorgt, mich auf den Flughafen in Miami geschleppt und nach der Landung in Echterdingen direkt weiter in die Praxis zu Doc Frölich, dem früheren VfB-Meisterarzt. Seine Diagnose nach der Kernspintomografie, kurz und verletzend: “Abriss.”

Kobe Bryant, der Basketballkönig, kämpft mit einem solchen seit Monaten. Auch Rosi Mittermaier, erzählt der Doc, hat es einmal erwischt, beim Slalom, trotz des dicken Skistiefels. “Mich übrigens auch”, sagt er und zeigt mir die Narbe. Es trifft offenbar nur die Besten, und man ist fast froh, dazugehören zu dürfen. Er hat mich dann also operiert, und es gibt nichts Schöneres, als hinterher wieder aufzuwachen – in der Hoffnung, dass es einem ergeht wie Seeler, der über sein damaliges Krankenzimmer noch heute schwärmt: “Überall standen Blumen. Auch die Briefe, die gekommen sind, waren herzzerreißend“.

Uwe war schon ein halbes Jahr später wieder fast der Alte und hat, obwohl ein Achillessehnenriss zu der Zeit noch als sicherer Karriereabschluss galt, die deutsche Mannschaft mit einem Spezialschuh zum 2:1 gegen Schweden und zur WM 1966 geschossen.

“Disziplin ist alles”, trichtert Doc Frölich mir nun Tag für Tag ein und motiviert mich stets mit dem Hinweis auf Sami Khedira, der mit seinem Knie neulich wieder bei ihm im VfB-Rehazentrum vorbeigeschaut hat. Außerdem betreut er Hoffenheims belgischen Torwart Koen Casteels, dessen WM-Träume plötzlich bedroht sind durch einen Schienbeinbruch, und vor ein paar Tagen ist auch Dimitri Tarasow von Lok Moskau wieder zu ihm hergeflogen. Kreuzbandriss. Frölich, als heilender Hexer bis in Putins Reich bekannt, soll auch dem Russen die WM retten.

„Wer von uns“, frage ich ihn zitternd, „hat die besten Karten?“

Doc Frölich zermartert sich kurz das Hirn, grübelt, wägt ab und sagt dann: “Khedira, knapp vor Ihnen.”

Und ich dachte schon, meine Chance sei kleiner als die einer Sau beim Metzger. Aber das ist der Vorteil eines Kolumnisten: Er muss in einem Spiel nicht zwölf Kilometer rennen, sondern nur zwölf Kilometer sitzen.

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