WM in England 1966: „Ich habe die Beleidigung an seinem Gesichtsausdruck abgelesen“

WM in England 1966: „Ich habe die Beleidigung an seinem Gesichtsausdruck abgelesen“

Rudolf Kreitlein wurde bei der WM 1966 als „tapferes Schneiderlein“ berühmt. Er wollte den Argentinier Rattin vom Platz stellen, aber der stellte sich dumm und ging einfach nicht. Aus Notwehr wurde Kreitlein zum Revolutionär – und erfand tags darauf die gelbe und rote Karte.

Auf die Risiken einer Fußball-WM muss man sich als Journalist gewissenhaft vorbereiten. Deshalb war ich vor dem Abflug nach Südafrika jetzt noch schnell beim Doktor, um mich gegen Seuchen impfen zu lassen, aber auch im Stuttgarter Theaterhaus, um mich gegen Schiedsrichter impfen zu lassen.

„Schiedsrichter Fertig“ heißt das Stück, das dort zurzeit läuft. Thomas Brussig hat es geschrieben, und es ist ein wunderbares, aber fast tragikkomisches und trauriges Stück – über arme Kerle, die hin und her rennen, kein Tor schießen dürfen und keinen Beifall erhalten.

Auf der zu einer Umkleidekabine umdekorierten Bühne schlüpfen drei Schauspieler in die Haut von Schiedsrichter Uwe Fertig und seiner zwei Linienrichter. Kurz vor dem Anpfiff zetern sie miteinander über ihr unmenschliches Los, da draußen gleich wieder als Pfeifen im Regen zu stehen und an die Wand gestellt zu werden als schwarze Sau, sie zerreißen sich das Maul über die Spitzbuben und Schwalbenkönige, von denen sie schamlos hereingelegt werden – also kurz gesagt zeigen sie uns, wie man sich als Schiedsrichter vor dem Anpfiff dafür in Stimmung bringt, von achtzigtausend ausgepfiffen, angepöbelt, beschimpft, bebrüllt, beleidigt, bedroht und auf alle erdenkliche Arten massakriert zu werden.

Warum sie es trotzdem tun?

Bei der Antwort klopft sich Uwe Fertig mit einem fiesen Rächerblick brüllend auf die Schenkel: Als schlauer Schiedsrichter kann man trotzdem unsterblich werden – es genügt schon ein fragwürdiger Pfiff, mit denen man die Fußballwelt auf die Palme bringt.

Die lebenden Beweise für diese Pointe des Bühnenstücks begegnen einem fast täglich. In verblüffender Regelmäßigkeit, die kein Zufall mehr sein kann, führen pfiffige Schiedsrichter die berühmtesten Fußballstars der Welt wie Tanzbären am Nasenring derart durch die Manege, dass ich hier spontan den derben Scherz vom Teufel erzählen muss. Der fragt Petrus am Telefon, ob er sich nicht eines fernen Tages einmal ein packendes Fußballspiel Himmel gegen Hölle vorstellen könne, worauf Petrus ihn warnt: „Gerne, aber Ihr werdet chancenlos sein, denn für uns spielen dann alle Götter, Pele, Maradona, Beckenbauer…“

„Aber wir“, unterbricht ihn feixend der Teufel, „haben die Schiedsrichter.“

Wahr ist auf jeden Fall eines: Besonders selbstbewusste Schiedsrichter, die etwas auf sich halten, weisen an ausgesuchten Tagen nach, dass sie für ein erfülltes Leben ein gewisses Gefühl für die Macht unbedingt brauchen, vor allem in Form des Zückens gelber und roter Pappendeckel, mit denen sie ungestraft die höchstbezahltesten Millionäre in kurzen Hosen stramm stehen lassen.

Womit wir endlich zum Thema kommen: Wer hat diese Karten erfunden?

Für die Antwort darauf muss man, wenn man vom Stuttgarter Theaterhaus am Pragsattel kommt, nicht mehr weit fahren. Runter in die Stadt und dann hoch nach Degerloch, dort lebt der Gesuchte als Kultfigur: Rudolf Kreitlein.

Ich habe einmal neugierig bei ihm an der Tür geklingelt, und er ließ mich in seine dicken Ordner schauen, in die er die Zeitungsartikel vom wichtigsten Tag seines Lebens hineingeklebt hat. Bis dahin war er nur ein kleiner Schneidermeister, aber mit einem einzigen Pfiff ist er bei der WM 1966 dann über Nacht als „tapferes Schneiderlein“ weltberühmt geworden. „Auch meine Schiedsrichterkluft war selbstgemacht“, hat mir Kreitlein erzählt – und anschließend die Geschichte mit Rattin.

Im Viertelfinale war das. In Wembley traf England auf Argentinien, und irgendwann hat Antonio Rattin, der Kapitän der Gauchos, den deutschen Schiedrichter von oben herab angeschaut. Rattin war ein Riese, und Kreitlein nur ein laufender Meter, aber dafür saß er am längeren Hebel. Weil die beiden sich aufgrund weltsprachlicher Mängel zu einer verbalen Klärung der heiklen Situation nicht in der Lage sahen, hat Kreitlein in der Not „an Rattins Gesichtsausdruck abgelesen“, dass der ihn beleidigt hatte – und „mit der Gestik eines Burgschauspielers“, notierte später ein Augenzeuge, versuchte der kleine Mutige den Pampariesen des Feldes zu verweisen, in Form fuchtelnder Bewegungen des Armes und flankiert vom gezückten Zeigefinger. Aber Rattin ließ sich nicht verscheuchen. Nix verstehen, deutete er an, nur Bahnhof. Erst nach siebenminütigen Tumulten gelang es bewaffneten Londoner Bobbies schließlich, den verständnislosen Argentinier abzuführen.

„Wir müssen etwas finden, damit Spieler und Zuschauer unsere Entscheidungen besser verstehen“, hat Kreitlein hinterher zum englischen FIFA-Schiedsrichterchef Ken Aston gesagt, der ihn schon während der Rudelbildung auf dem Platz unter vollem Einsatz seines imposanten Körpers vor dem Schlimmsten bewahrt hatte. Der Sage nach musste Aston dann am selben Abend bei der Heimfahrt durch London an einer Ampel halten, schlagartig durchfuhr ihn der gelbrote Geistesblitz, und anderntags war für Aston und Kreitlein klar: Verwarnungskarten müssen her. So wird nun seither wie der Verkehr auch der Fußball geregelt.

Als tapferes Schneiderlein und wegweisender Gelbrot-Pionier ist Kreitlein letztes Jahr zu seinem neunzigsten Geburtstag vom Bundespräsidenten ins Schloss Bellevue eingeladen worden, zum Abendessen und zur feierlichen Entgegennahme des Bundesverdienstkreuzes. In dessen Genuss kommen normalerweise nur handverlesene Deutsche, aber in seltenen Fällen kriegt es auch einmal ein schwäbischer Tüftler, der mit einer genialen Erfindung verhindert hat, dass der Fußball an seinen Missverständnissen und Tumulten auf dem Platz zugrunde geht.

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Verletzungen im Fußball: „Khedira führt, knapp vor Ihnen“

Verletzungen im Fußball: „Khedira führt, knapp vor Ihnen“

Der Knall ist kurz. Es macht plopp und peng, die Achillessehne ist durch, der WM-Traum hängt plötzlich in der Luft wie der Wadenmuskel – und unversehens gerät man als Journalist in einen Wettlauf mit drei Fußballstars, die Weltmeister werden wollen.

Die folgende Kolumne ist aus medizinischer Sicht lebensgefährlich – sie kann zu einer Thrombose führen.

Doc Frölich macht sich jedenfalls große Sorgen. Alle paar Tage legt er die Stirn in Runzeln, mustert streng den geschwollenen Fuß mit der rötlich schimmernden Wunde und fragt sich, ob ich mich an seine heilsamen Verordnungen wirklich halte. “Geben Sie sich”, will er wissen, “immer pünktlich die Spritze?”

“Jeden Abend”, nicke ich, “mal rechts vom Nabel, mal links.”

“Nehmen Sie die Tablette?”

“Vorschriftsmäßig”, schwöre ich.

“Und das Bein”, bohrt er weiter, “legen Sie es immer schön hoch?”

“Ja”, lüge ich.

Zur Grundstellung eines Journalisten gehört es, beim Schreiben den Fuß unter dem Tisch zu haben, aber mein Doktor will unbedingt, dass ich ihn auf den Tisch lege und meine Kolumnen in den kommenden Wochen mit gestrecktem Bein formuliere. Wenn beim Fußball einer mit dem gestreckten Bein daherkommt, zieht der Schiedsrichter aus der Hose sofort die Arschkarte: glatt Rot. Doch Dr. Thomas Frölich denkt anders. Rein in einen Sessel, befiehlt er mir, Laptop auf den Bauch, ein paar dicke Kissen auf einen Schemel und das malade Bein drauf, und zwar so, dass der Fuß auf Herzhöhe liegt. Wenn ich dann zaghaft einwende, dass keine Kolumne solche Verrenkungen aushält und ich mir vorkomme wie ein Einarmiger beim Einwurf, sagt er nur: “Wollen Sie nun zur WM – oder nicht?”

Alles ist gebucht. Sepp Blatter hat meine Anwesenheit in Brasilien amtlich genehmigt, der Flug ist am 7. Juni, meine Hacienda beim DFB-Hotel „Campo Bahia“ in Santo Andre gleich um die Ecke, und Jogi Löws Zauberer legen größten Wert darauf, dass ich komme, denn bei meinen neun WM-Teilnahmen sind wir zweimal Weltmeister, zweimal Vizeweltmeister und zweimal Dritter geworden. Und ausgerechnet jetzt dieser herbe Rückschlag. Ich leide wie Michael Ballack, der vor der WM vor vier Jahren in Südafrika in Gips gelegt wurde, oder wie Sami Khedira jetzt nach seinem Kreuzbandriss.

Man sollte kurz vor einer Fußball-WM als Journalist nicht mehr Tennis spielen und schon gar nicht mit einem pfeilschnellen Schritt nach links zu einer spektakulären Rückhandpeitsche ansetzen. Plopp hat es gemacht, einfach plopp. Vielleicht war es auch ein Peng, jedenfalls war es ein jäher Knall, und dank der Gnade der frühen Geburt wusste mir sofort klar: Genau so war es auch bei Uwe, am 20. Februar 1965, Waldstadion, Eintracht gegen den HSV, 56. Spielminute. Anderntags, frisch operiert, sagte Uwe Seeler: “Ich dachte, da unten hat mich ein Elefant getreten.”

So ein Achillessehnenriss kann einen Ochsen töten, ich schwöre es. Man fällt um wie erschlagen, spürt zunächst einen ekligen Schmerz, sehnt sich nach der Vollnarkose, das Bein hat keine Kontrolle mehr, der Wadenmuskel hängt haltlos im Nichts, und das auch noch in Amerika. Hinkend habe ich mir eine Mullbinde und einen Stützstrumpf besorgt, mich auf den Flughafen in Miami geschleppt und nach der Landung in Echterdingen direkt weiter in die Praxis zu Doc Frölich, dem früheren VfB-Meisterarzt. Seine Diagnose nach der Kernspintomografie, kurz und verletzend: “Abriss.”

Kobe Bryant, der Basketballkönig, kämpft mit einem solchen seit Monaten. Auch Rosi Mittermaier, erzählt der Doc, hat es einmal erwischt, beim Slalom, trotz des dicken Skistiefels. “Mich übrigens auch”, sagt er und zeigt mir die Narbe. Es trifft offenbar nur die Besten, und man ist fast froh, dazugehören zu dürfen. Er hat mich dann also operiert, und es gibt nichts Schöneres, als hinterher wieder aufzuwachen – in der Hoffnung, dass es einem ergeht wie Seeler, der über sein damaliges Krankenzimmer noch heute schwärmt: “Überall standen Blumen. Auch die Briefe, die gekommen sind, waren herzzerreißend“.

Uwe war schon ein halbes Jahr später wieder fast der Alte und hat, obwohl ein Achillessehnenriss zu der Zeit noch als sicherer Karriereabschluss galt, die deutsche Mannschaft mit einem Spezialschuh zum 2:1 gegen Schweden und zur WM 1966 geschossen.

“Disziplin ist alles”, trichtert Doc Frölich mir nun Tag für Tag ein und motiviert mich stets mit dem Hinweis auf Sami Khedira, der mit seinem Knie neulich wieder bei ihm im VfB-Rehazentrum vorbeigeschaut hat. Außerdem betreut er Hoffenheims belgischen Torwart Koen Casteels, dessen WM-Träume plötzlich bedroht sind durch einen Schienbeinbruch, und vor ein paar Tagen ist auch Dimitri Tarasow von Lok Moskau wieder zu ihm hergeflogen. Kreuzbandriss. Frölich, als heilender Hexer bis in Putins Reich bekannt, soll auch dem Russen die WM retten.

„Wer von uns“, frage ich ihn zitternd, „hat die besten Karten?“

Doc Frölich zermartert sich kurz das Hirn, grübelt, wägt ab und sagt dann: “Khedira, knapp vor Ihnen.”

Und ich dachte schon, meine Chance sei kleiner als die einer Sau beim Metzger. Aber das ist der Vorteil eines Kolumnisten: Er muss in einem Spiel nicht zwölf Kilometer rennen, sondern nur zwölf Kilometer sitzen.

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WM in der Schweiz 1954: „Friedrich, es regnet!“

WM in der Schweiz 1954: „Friedrich, es regnet!“

Wenn man einem Toten zum 100. Geburtstag gratuliert, muss es großartige Gründe geben. Wie bei Fritz Walter. Nur eines ist traurig: Erfolglos habe ich als Kind versucht, seinen 32-Schläge-Rekord auf der Minigolfanlage in Obertal im Schwarzwald zu brechen.

Jedes Jahr flattert mir pünktlich vor der Feriensaison ein bunter Prospekt des Hotels „Belvedere“ in den Briefkasten. Früher brachte ihn der Postbote. Heute kommt er als E-Mail.

Waren Sie einmal im „Belvedere“?

Das Hotel in Spiez am Thuner See gilt seit 1954 als Wallfahrtsort. Jeder anständige Deutsche sollte es mindestens einmal im Leben aufsuchen und vor dem Treppchen am Eingang niederknien, und als ich vor ein paar Jahren eine Nacht dort verbrachte, gab es im Fanshop immer noch das Hemd von Fritz Walter. „Vom Originaltrikot“, garantierte das Hotel, „wurde das Schnittmuster genommen.“

Ich war damals allerdings nicht den weiten Weg in die Schweiz gefahren, um das nachgemachte Hemd des alten Helden zu kaufen, vielmehr wollte ich den unverfälschten Hauch der Heldentat atmen, und zwar dort, wo sich der Kapitän Walter und der Rechtsaußen Rahn, kurz: der „Boss“, damals jeden Morgen vor den Spiegel gestellt und rasiert hatten. Als fragte ich das freundliche Fräulein an der Rezeption: „Kann ich Zimmer 303 haben?“

Sie war untröstlich, als sie mir die bittere Wahrheit eröffnete: „Wir haben umgebaut.“

Zimmer 303, das Basislager des Wunders, gab es nicht mehr. Umso mehr, und damit war mein Tag dann doch halbwegs gerettet, war aber in Umrissen der historische Speisesaal noch zu erkennen, in dem am 4. Juli 1954 die vermutlich wichtigsten drei Wörter des deutschen Fußballs gesprochen wurden – die DFB-Kicker saßen beim Mittagessen, als der Nürnberger Max Morlock plötzlich durchs Fenster starrte und wie elektrisiert aufschrie.

„Friedrich, es regnet!“

Friedrich, das war Fritz Walter. „Wir nagten bei Tisch gerade die Knochen unserer Hähnchen ab“, hat der Kapitän den Glücksmoment später beschrieben. Er mochte feuchtes Gras, auf schlüpfrigem Geläuf kam seine Ballfertigkeit perfekt zum Tragen. Auch Bundestrainer Sepp Herberger zwinkerte: „Fritz, Ihr Wetter.“

Es war ein Wetter, um Helden zu zeugen. Und wir Deutsche brauchten dringend neue Helden. Die alten waren tot.

Der Rest des Tages ist Geschichte, die Bilder vom Wunder sind unauslöschlich ist allen Überlebenden gespeichert. Boss Rahns 3:2. Die patschnassen Ungarn. Die feuchtfröhlichen deutschen Schlachtenbummler in ihren Regenmänteln. Die Stimme von Herbert Zimmermann, die sich zunehmend überschlug, als er durch sein Radiomikrofon in die Heimat schrie: „Aus! Aus! Das Spiel ist aus! Deutschland ist Weltmeister!“

Der 4. Juli 1954 gilt als die wahre Geburtsstunde der Bundesrepublik Deutschland. „Wir sind wieder wer!“, spürte ein einiges Volk. Die geschundene deutsche Seele traute sich über Nacht wieder zum aufrechten Gang zurück – und der deutsche Mann griff zu Lockenstab und Pomade, um so glänzend daherzukommen wie Fritz Walter.

Der war kein Gewöhnlicher. Wenn man einem Toten zum hundertsten Geburtstag gratuliert wie jetzt diesem Pfälzer, müssen schwerwiegende Gründe vorliegen.

Wo fangen wir an?

Am besten mit seinem Tor des Jahrhunderts. Am 6. Oktober 1956 spielte der 1. FC Kaiserlautern vor 110 000 Zuschauern in Leipzig gegen Wismut Karl-Marx-Stadt, gewann 5:3, und Fritz Walter gab dem DDR-Meister den goldenen Schuss. In seinem Buch „So habe ich’s gemacht …“ beschreibt er ihn so: „Der von rechts kommende Flankenball senkte sich hinter meinem Rücken. Da ließ ich mich nach vorne fallen, fast in den Handstand und schlug mit der Hacke zu. Aus zwölf, fünfzehn Metern Entfernung flog der Ball haarscharf ins obere Toreck. Dass es ein Tor wurde, war Glück. Dass ich in dieser Situation aber überhaupt an den Ball kam und ihn traf, das war kein Glück.“

Es war Können. Er war ein zärtlicher Ballstreichler, und alte Schriften schildern ihn als genialen Spielmacher und Strategen, der nebenher verteidigte und vollstreckte. In 61 Länderspielen schoss Fritz Walter 33 Tore. Aber so gut wie keines davon kam live und in voller Länge im Fernsehen, und schon gar nicht in Farbe, die Bilder lernten gerade erst laufen. Wie gut Fritz Walter war? Es ist wie bei Muhammad Ali, dessen Trainer Angelo Dundee gesagt hat: „Den besten Ali haben wir nie gesehen.“ Denn in seinen besten Jahren war Ali als Kriegsdienstverweigerer gesperrt.

Der junge Walter zog in den Krieg und hat an der Front seine beste Zeit verloren. 1940 hatte ihn der Reichstrainer Herberger erstmals nominiert, er war 19, heute würde man Wunderkind sagen, und gegen Rumänien schoss er auf Anhieb drei Tore. 1945 kehrte er dann aus der russischen Gefangenschaft heim, 1951 in die Nationalelf zurück, und er sagte: „Der Krieg hat mir die besten Jahre gestohlen.“ Er war jenseits der 30. Eigentlich war alles vorbei. Aber es fing erst an.

Das zweite Leben.

Walter spielte jetzt nicht mehr für Hitler, aber immer noch für Herberger. Die Zwei waren wie Vater und verlängerter Arm, der Filigrane setzte die Ideen des Trainers um, und umgekehrt war Herberger sein Trauzeuge, als er 1948 die gutaussehende Italia Bortoluzzi zum Altar führte. Besorgt tuschelten die Pfälzer angesichts der feurigen Italienerin: „De schwarz Hex mit de rote Fingernägel, hoffentlich macht se de Fritz net fertig.“ In Wahrheit hat sie ihn so richtig in Fahrt gebracht. Zweimal wurde Kaiserslautern Deutscher Meister, und Atlético Madrid und Inter Mailand lockten mit Geldsäcken. Erfolgslos. „Dehäm is dehäm“, soll der Fritz gesagt haben.

Dann kam die WM 1954.

Das Wunder wird immer mit dem „Geist von Spiez“ erklärt, aber es steckte auch der Geist von Schwarzwald dahinter. Ich weiß das, mein Opa Artur stammte aus Baiersbronn-Obertal, wir feierten dort immer unseren jährlichen Familientag, und im Gasthof „Blume“ am Eingang des Fleckens haben Herbergers Helden bis heute ihre Spuren hinterlassen, die alten Fotos vom Wirt mit dem Sepp und dem Fritz halten die glorreiche Vergangenheit wach. Vor der WM in der Schweiz tankten die angehenden Weltmeister in Obertal die Luft für das Wunder, und auf dem Minigolfplatz stellte Fritz Walter einen neuen Rekord auf: 32 Schläge. Ich habe als Bub später jedes Jahr versucht, ihn zu brechen, aber irgendwann erfolglos kapituliert.

Mit acht Schlägen haben es bei der WM dann die Ungarn unseren Deutschen besorgt. Ferenc Puskas und seine Puszta-Zauberer, unbesiegt in vier Jahren, zerlegten das Team um Fritz Walter in der Vorrunde in alle Einzelteile, Endstand 8:3. In Erwartung einer Niederlage hatte Herberger seine besten Spieler sicherheitshalber weggelassen, und er hätte die Demütigung besser auch seinem sensiblen Kapitän erspart. „Jahrelang war ich vor jedem Spiel so aufgeregt, dass mir schlecht wurde“, gestand Walter einmal, „ich saß dann oft bis kurz vor Anpfiff auf dem Klo.“ Das probate Gegenmittel fand Herberger, ein Fuchs in Sachen Menschenführung, aber im „Belvedere“: Auf Zimmer 303 kombinierte er den Grübler mit dem sorglosen Helmut („Boss“) Rahn, einer Stimmungskanone. „Helmut“, sagte der Chef, „baue Se mir den Fritz auf.“

Die Zwei ergänzten sich derart, dass der Grübler dann im Halbfinale zwei Elfmeterbälle seelenruhig im österreichischen Kasten versenkte und der Boss im Finale gegen die unschlagbaren Ungarn erst das 2:2 schoss und dann Herbert Zimmermann auch noch den Schrei aller Schreie entlockte: „Aus dem Hintergrund müsste Rahn schießen, Rahn schießt, Tooor, Tooor, Tooor – Tooor!“

Fritz Walter bekam als Weltmeister 2300 Mark, einen Motorroller, eine Couchgarnitur, einen Fernseher, einen Staubsauger und eine Nähmaschine. Er schrieb den Bestseller „3:2“ und spielte, um die verlorenen Kriegsjahre nachzuholen, dann auch noch die WM 1958 in Schweden. Und um ein Haar wäre es dort zum finalen Königsduell gekommen: Der 37-jährige Fritz Walter gegen den 17-jährigen Pelé.

Ein furchtbares Halbfinale hat den Traum dann zerstört, speziell den des Chronisten hier, der sich achtjährig seiner ersten WM hingab. Ein Bub vergisst nichts. Ich lag vor dem Radio und habe erst gezittert und am Ende geheult. Es handelte sich um eine der damals sehr beliebten Musiktruhen, links war das Fach mit dem Eierlikör und dem Kognac, rechts der Plattenspieler mit dem Radio, und aus dem brüllten 50 000 Schweden ihr „Heja! Heja!“ an jenem fürchterlichen Abend, der damit endete, dass uns Herbert Zimmermann an die Heimatfront durchgab, wie Fritz Walter gefoult und von den Cotrainern Schön und Gawliczek vom Platz getragen wurde, den Kopf in beide Hände vergraben. Für den Rest des Spiels hinkte er wie ein Kriegsversehrter auf Rechtsaußen.

Es war Fritz Walters letztes Länderspiel. Danach wurde er Ehrenspielführer, unter anderem eine Straße, eine Schule, ein Triebwagen der Bundesbahn, ein Sekt, ein Fußballturnier, eine Stiftung und das Stadion am Betzenberg wurden nach ihm benannt, und 2002 ist er zu Grabe getragen worden. Aber er lebt.

Denn ein großer Toter stirbt nie. Im „Belvedere“ ist jahrzehntelang sein Trikot nachgebaut worden, und flankierend gab es in Deutschland anlässlich eines runden Geburtstags des Berner Wunders für 14,90 Euro auch noch einen Regenschirm mit dem Aufdruck „Fritz-Walter-Wetter“. Er war dem Schirm nachempfunden, den man dem deutschen Kapitän hingehalten hatte, als ihm FIFA-Präsident Jules Rimet damals im Wankdorfstadion den WM-Pokal überreichte.

Es war ein Sauwetter am 4. Juli 1954 – aber so hat es der Fritz gewollt.

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WM in Südkorea 2002: „Es wird mich ein paar Tage quälen“

WM in Südkorea 2002: „Es wird mich ein paar Tage quälen“

Olli Kahn ist abgetaucht, er therapiert sich im Urlaub auf Sardinien. Wie kommt ein Fehlerloser mit einem Fehler klar – und dann auch noch mit so einem solchen wie am Sonntag im WM-Finale in Yokohama?

Als Oliver Kahn nach dem WM-Endspiel auf dem Boden hockte und haltsuchend mit dem verlängerten Rücken am Torpfosten lehnte, fertig mit sich, Gott und der Welt, war es von Vorteil, dass ihm keiner einen Revolver reichte – er hätte sich dankend den Fangschuss gegeben.

Was in ihm vorging?

Um davon eine ungefähre Ahnung zu haben, muss man lediglich wissen, was Vater Rolf einmal aus der Kindheit seines Olli berichtet hat: „Wenn der Bub beim Mensch-ärgere-dich-nicht verloren hat, sind mir die Figuren um die Ohren geflogen.“

So ähnlich muss es gewesen sein, nur viel schrecklicher, als der beste Torwart der Welt letzten Sonntag in Yokohama das Endspiel der Weltmeisterschaft verloren hat. Statt der Olli-ärgere-dich-nicht-Figuren hat er diesmal seine Handschuhe weggepfeffert, und im Übrigen wäre er auf der Stelle verrückt geworden, wenn er es, weil es die unheilbare Berufskrankheit aller Torleute ist, nicht schon vorher gewesen wäre. Ein Torwart muss verrückt sein, er geht auf dem schmalen Grat zwischen Held und Depp sonst zugrunde.

Schon früh in den 1990er Jahren, er war Anfang 20, hat mir Kahn sein Berufsbild erklärt. Als verheißungsvolles Talent stand er damals im Kasten des Karlsruher SC und hatte noch nicht viel erlebt, wusste aber bereits bestens, welche berufliche Herausforderung er sich da aufgehalst hatte: „Als Torwart bist du Einzelkämpfer“, sagte er, „ein Feldspieler kann seine Fehler auswetzen, der Torwart nicht. Das Leben im Tor macht einsam.“ Vor allem so ein Fehler.

Es war bei der ganzen WM sein einziger.

Was hatte er für ein tolles, unübertreffliches, überwältigendes Turnier gespielt, Freund und Feind hatte ihn gefeiert und gefürchtet als „King Kahn“ oder „Titan“. Ohne den Teufelskerl im Tor wäre Rudi Völlers DFB-Team nicht im Finale gelandet, sondern schnell nach der Vorrunde auf Schleichwegen heimgeflogen, Economy, Holzklasse, und auf dem Frankfurter Flughafen vermutlich mit einem Wurfhagel aus Südfrüchten und faulen Tomaten empfangen worden. Aber aus drei Gründen landete die Truppe stattdessen am Ende im Finale, nämlich „mit Kampf, Krampf und Kahn“, wie der TV-Reporter Marcel Reif wahrheitsgemäß vermeldete. Der beste Torwart der Welt wurde vor dem Anpfiff auch noch zum besten Spieler der WM gewählt. Und dann das: Er verliert dieses finale Spiel, das alles entscheidende, das wichtigste seiner Karriere.

„Es wird mich ein paar Tage quälen“, sagt er in der finsteren Nacht nach dem Malheur.

Ein paar Tage? Sein Leben lang wird er ihn verfolgen, denn die Welt ist gemein. „Die einzigen, die sich an dich erinnern, wenn du Zweiter wirst, sind deine Frau und dein Hund“, hat der Brite Damon Hill gesagt, als er in der Formel 1 an Michael Schumacher wieder einmal nicht vorbeikam. Wobei Kahn jetzt nicht mit Frau und Hund, sondern mit Frau und Kind versucht, die Gespenster loszuwerden. Nach Sardinien ist er angeblich geflüchtet, in den Urlaub, oder in die Therapie.

Vermutlich steht er in diesem Moment im Hotelzimmer vor dem Spiegel und beschimpft sich selbst, oder er beißt sich in die Backe, wie er es in der Bundesliga gelegentlich mit Gegenspielern macht, mit bis zum Anschlag vorgeschobenem Kinn und einer Fratze der Selbstverachtung. Denn nur als Fehlerloser und Nummer eins ist sich einer wie Kahn gut genug, so war es schon in seinen Anfangsjahren beim KSC, als ihm die Rivalen Famulla und Wimmer den Platz im Tor streitig machten – der arme Famulla, erinnert sich Rudi Wimmer, habe sich im Hotel sicherheitshalber nie mit Kahn auf ein Zimmer gelegt, „vor Angst, dass ihm der nachts das Kopfkissen aufs Gesicht drückt.“

Diese Angst muss Ollis Frau jetzt nicht haben, dafür aber anderweitig auf alles gefasst sein. Schlägt er im Schlaf um sich? Klatscht er Rivaldos Schuss auch in seinen Albträumen nochmal ab? Führt er zermürbende Selbstgespräche? Trommelt er mit den Fäusten gegen die Nachttischschublade? Wie verarbeitet Kahn diesen Tiefpunkt seiner Karriere, von dem er ahnt, dass es keinen tieferen geben wird? Wie geht er mit dem Mitleid um und dem Wissen, den Mythos der Unbezwingbarkeit verspielt zu haben? Als er da unten im Gras hockte, bezwungen, besiegt und innerlich beerdigt, sagte der Sat-1-Reporter Werner Hansch: „Mir kommt er in diesem Moment näher. Er ist wieder unter uns – als Mensch.“

Für Kahn ist das kein Trost. Der Außerirdische gegen den Rest der Welt, man kann sich als Torwart an solche Schlagzeilen gewöhnen. „Der Steingesichtige ist ein Gigant“, hatte ihn ein Blatt aus Dallas bestaunt, nachdem der US-Jungstar Landon Donovan frei vor Kahn wie das Kaninchen vor der Schlange erstarrt war – die Szene deckte sich mit der ins echte Leben übertragenen Blaupause jenes TV-Werbespots, in dem ein Elfmeterschütze, als er Kahn vor sich sieht, mitten im Anlauf umdreht und flüchtet. So wird man als Torwart irgendwann zum Ritter mit der stählernen Rüstung, an dem alles abprallt, Jahr für Jahr ist Kahn diesem Bildnis immer gerechter geworden, bis er letzte Woche vollends über allem schwebte, „Bild“ machte es kurz: „Die Faust Gottes.“

In der Etage über Olli wohnte höchstens noch der Allmächtige – aber dem wurde der Zauber dann offensichtlich zu bunt, und er hat die himmlische Hierarchie mittels der Schrecksekunde von Yokohama wieder zurechtgerückt.

Wie findet der gefallene Gigant jetzt auf Sardinien wieder zum inneren Frieden? Keiner weiß es, aber es fühlt sich zumindest beruhigend an, wenn man hört, dass er zur Entspannung angeblich gerne Vivaldi und Tschaikowsky hört und sich in Notfällen ergänzend noch auf das Buch „Mentale Stärke“ von James E. Loehr stützt. Es spricht also vieles dafür, dass Kahn demnächst wieder in die Handschuhe spuckt und die größten Kanoniere der Welt sich langsam schon wieder überlegen sollten, wie sie am besten vor ihm in Deckung gehen.

Auch der Bundeskanzler hat sich mittlerweile eingeschaltet und die Rückkehr des Bundestorwarts zur alten Stärke sozusagen zur Chefsache erklärt. „Olli Kahn ist nach diesem Fehler nicht kleiner, das ist doch Unsinn“, hat Gerhard Schröder die angeschlagene Nation beruhigt, und flankierend haben wir einen TV-Propheten auf Sat 1 sagen hören: „Ein Kahn kommt zurück, stärker denn je.“

Noch stärker? Gott steh ihm bei.

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WM in Spanien 1982: „Alle verhaften“

WM in Spanien 1982: „Alle verhaften“

Bei der Fußball-WM droht uns ein Duell, das düster an ein früheres erinnert. In Gijon fand es statt, bei der WM 1982 gegen Österreich. Es war eines jener Spiele, bei denen man als Reporter auf der Tribüne sitzt und gar nicht mehr glaubt, was man sieht. Ein „Tatort“-Kommissar riet nach der Übertragung spontan zu Handschellen.

Vor ein paar Tagen hat Jogi Löw erzählt, dass seine Freundschaft mit dem US-Nationaltrainer Jürgen Klinsmann zwar intakt ist, im Vorfeld des nahenden WM-Duells in Recife aber ruht – „wir hatten zuletzt keinen Kontakt“, verriet der Bundestrainer, „und werden vor dem Spiel vermutlich nicht mehr telefonieren.“

Jetzt sind alle gespannt.

Denn schlagartig hat sich eine Situation ergeben, in der gute Freunde durchaus zum Hörer greifen könnten, um entweder über das brasilianische Wetter, die dortigen schönen Frauen oder die Reize eines Unentschiedens zu reden. Der unwiderstehliche Charme einer solchen Punkteteilung bestünde nämlich darin, dass Deutschland und die USA dann bombensicher im Achtelfinale wären, da könnten die Portugiesen und Ghanaer spielen wie sie wollen und wären draußen, selbst wenn sie am Anstoßkreis im Handstand ein Bier trinken, ohne es zu verschütten.

Sie glauben nicht an einen solchen Spuk?

Ich auch nicht. Aber die journalistische Sorgfaltspflicht zwingt mich, an jenen holländischen Kollegen zu erinnern, der sich am 25. Juni 1982 vor dem WM-Vorrundenspiel Deutschland gegen Österreich im Stadion „El Molinon“ im spanischen Gijon neben mich setzte und sagte: „Die werden sich einigen.“ Es hat mich viel Mühe gekostet, ihn vom Gegenteil zu überzeugen – dass nämlich die Deutschen sich an den Wienern grausam rächen würden für die gerade vier Jahre alte „Schmach von Cordoba“. Und auf der Gegenseite hatte Torwart Friedl Koncilia tags zuvor wüst gedroht: „Wir schicken die Deutschen nach Hause.“

Die Ausgangslage war so: Deutschland hatte gegen Algerien sensationell verloren und erst einen Sieg auf dem Konto, die Österreicher hatten ihre beiden Spiele gewonnen, und es gab nur ein einziges Ergebnis, das beide an den Nordafrikanern vorbei in die Zwischenrunde hieven würde – 1:0 für Deutschland. Horst Hrubesch schoss dieses 1:0, in der elften Minute.

„Und nun pass auf“, sagte der Holländer.

Als einer der letzten überlebenden Augenzeugen des Unfassbaren, das sich danach ereignete, muss ich leider kleinlaut zugeben, dass die restlichen 79 Minuten weitgehend so abliefen: Der Ball wurde von beiden Teams in der eigenen Hälfte minutenlang hin- und hergeschoben und, damit die Torhüter Schumacher und Koncilia nicht einschliefen, gelegentlich zu denen zurückgespielt. Die nahmen ihn dann jedes Mal mit der Hand auf, was bei Rückpässen damals noch erlaubt war, spazierten mit dem Ball unter dem Arm eine Weile durch ihren Strafraum, schossen ihn dann nach vorne, und danach war wieder der Gegner dran. Kurz: Man war sich stillschweigend einig, am günstigen Ergebnis nicht mehr zu rütteln. Zweikämpfe fanden nur noch alibimäßig statt, aus tabellarischen Vernunftsgründen erschien ein Schuss aufs Tor nicht mehr ratsam, und alle hielten sich dran.

Bis auf Schoko.

Walter („Schoko“) Schachner, der aufrechte Steiermärker, hat irgendwann tatsächlich einmal versucht, den Ausgleich zu schießen und sich später bitter beklagt: „Ich bin da vorne gelaufen wie ein Wahnsinniger und war richtig ang’fressen, denn die haben mich nicht angespielt.“ Sogar zu einer Gelben Karte hat er es in seinem Übereifer geschafft. Er kapierte eindeutig als Letzter, was da lief. Schachner später: „In der Pause hat es zwischen ein paar wichtigen Spielern beider Teams, die sich gut verstanden, Absprachen gegeben, dass man es bei diesem Resultat belassen soll. Ich hab` aber nix mitgekriegt.“

Unvermeidlich kam es deshalb dann zu diesem legendären Zwischenfall, als Schoko den Nichtangriffspakt brach und knallhart in Richtung des deutschen Tores abzog. Freund und Feind waren gleichermaßen fassungslos und empört. Der deutsche Vorstopper Karlheinz Förster, erinnern sich verlässliche Ohrenzeugen, spitzte seinen Gegenspieler Krankl auf der Stelle mit einem „Hei, Hansi!“ derart an, dass der zum Mitspieler Schachner fuchsteufelswild hinüberdrohte: „Schoko, wannsd` dös no amol mochst…“

Während der deutsche TV-Kommentator Eberhard Stanjek empört von einer „Schande“ sprach und sein Wiener Kollege Robert Seeger die Zuschauer zum Abschalten aufforderte, wedelten 40 000 entrüstete Spanier im Stadion mit weißen Taschentüchern und brüllten „Küsst Euch!“ Die sich beschissen fühlenden Algerier winkten derweil mit Geldscheinen, was den österreichischen Delegationsleiter Hans Tschak vollends in den Tiefpunkt des Tages trieb, indem er hinterher sagte: „Natürlich ist heute taktisch gespielt worden. Aber wenn deswegen hier 10 000 Wüstensöhne im Stadion einen Skandal entfachen wollen, zeigt das, dass die zu wenig Schulen haben. Da kommt so ein Scheich aus einer Oase, darf nach 300 Jahren mal WM-Luft schnuppern und glaubt, jetzt die Klappe aufreißen zu können.“

Es ist, ich verrate hier nichts Neues, beim 1:0 geblieben. Die Lokalzeitung „El Commercio“ veröffentlichte die Spielanalyse anderntags im Polizeibericht, und ein weiteres spanisches Blatt wurde im Wühlkorb der großdeutschen Geschichte fündig und titelte: „El Anschluss“. Umso lockerer sagte Hansi Krankl im Namen sämtlicher Spieler: „Ich weiß nicht, was man will. Wir sind qualifiziert.“

Der holländische Kollege hat mir beim Schlusspfiff dann übrigens grinsend auf die Schenkel geklopft. Und aus der Heimat erreichte uns in Gijon noch am selben Abend die Nachricht, dass der ARD-Moderator Hans-Joachim Rauschenbach seinen Studiogast, den Wiener „Tatort“-Kommissar Kurt Jaggberg, nach dem Spiel gefragt hatte: „Was kann man da machen?“

„Alle verhaften“, sagte der Kommissar.

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WM in England 1966: „Dieser gierige Kraut“

WM in England 1966: „Dieser gierige Kraut“

Das dritte Tor von Wembley ist gerächt: Helmut Haller hat 1966 nach dem Schlusspfiff den WM-Ball geklaut, der nicht drin war – und ihn den Engländern Jahre später für viel Geld wieder angedreht.

Kürzlich hat ein 16-Jähriger einen Schnapsladen überfallen und unter Androhung von Waffengewalt die Herausgabe hochprozentiger Getränke erzwungen – aber die Strafe fiel glimpflich aus, der Richter erkannte auf mildernde Umstände aufgrund schwerer Kindheit.

Ich weiß, was er meint.

Denn schwerer als meine kann eine Kindheit nicht sein. Bei der ersten WM, die ich mitbekam, war ich acht, das war 1958, und wir sind im Halbfinale gegen die Schweden schamlos beschissen worden. Aber vor allem kam dann 1966 auch noch dieses traumatische Schlüsselerlebnis hinzu, das ein heranwachsender 16-Jähriger normalerweise nicht verkraftet, ohne straffällig zu werden – jener unerträgliche Moment am unsäglichen 30. Juli 1966, als Rudi Michel den Satz in sein ARD-Mikrofon zitterte, den kein Deutscher jemals vergisst: „Kein Tor! Kein Tor! Oder doch? Und jetzt, was entscheidet der Schiedsrichter?“ Gottfried Dienst, die Schweizer Pfeife, entschied auf Tor.

Der Deutsche Fußball-Bund eröffnet am Wochenende die Ausstellung „50 Jahre Wembley-Tor“ und wird hoffentlich ein Mahnmal enthüllen, damit so ein Unrecht nie wieder passiert. Aber auf jeden Fall haben die Engländer schon einmal den richtigen Dämpfer erhalten: Das Auktionshaus „Sotheby`s“ wollte kürzlich das Trikot versteigern, in dem Geoff Hurst im damaligen WM-Finale uns Deutsche mit drei Toren erschossen hat – aber keiner kauft es.

Ein Ladenhüter.

Eigentlich müsste jeder halbwegs anspruchsvolle englische Souvernirjäger Haus und Hof für ein Stück WM-Hauch von 1966 verkaufen, aber für das auf 600 000 geschätzte Heldenhemd von Hurst ging nicht einmal das Mindestangebot ein. Das rote Stück Stoff mit der „10“ wird gemieden, als ob Blut daran klebt. Dabei sind es nur Hursts Schweiß und die Tränen von Hans Tilkowski, Willi Schulz, Siggi Held oder Uwe Seeler, die am Sonntag die DFB-Ausstellung in Dortmund eröffnen. Wenn sie von Hursts Hemdenflop hören, werden die deutschen Spieler in den Himmel hinaufzwinkern zu Helmut Haller – und unser unvergessenes Schlitzohr aus Augsburg wird sich mit seinem Lausbubengrinsen auf die Schenkel klopfen und den alten Gassenhauer „Souvenirs, Souvenirs“ von Bill Ramsey trällern.

Denn Haller, der bei jener WM das sagenhafte Mittelfeldtrio Haller-Beckenbauer-Overath krönte, hat nach dem Schlusspfiff den Ball geklaut.

Der dreiste Diebstahl ist durch Bilder belegt: Man sieht Haller, wie er mit dem unter den Arm geklemmten Ball in der Loge den Knicks vor der Queen macht. Oder später beim Abschlussbankett, als er die Heiligen Drei Könige der WM ihre Autogramme draufschreiben lässt: Pele, Eusebio und Bobby Charlton. Helmut Haller war ein Meister der Wertanlage. Er spürte: Was er sich da unter den Nagel gerissen hatte, war der berühmteste Ball der Fußballgeschichte – der Ball, der nicht drin war.

Damit kommen wir nochmal zu dieser verdammten, verfluchten 101. Minute. Geoff Hurst schießt, der Ball knallt an die Latte – und nach unten. Vor die Linie? Auf die Linie? Hinter die Linie? Schiedsrichter Gottfried Dienst, ein Postbeamter aus Basel, weiß es nicht. Sein Linienrichter Tofik Bachramov, ein Schnauzbart aus Baku am Kaspischen Meer, weiß es auch nicht, brüllt aber Dienst plötzlich an: „Is gol, gol, gol!“ 3:2. Das Tor des Jahrhunderts ist gefallen, aber nur ein Mensch auf der Welt hat es wirklich gesehen: Heinrich Lübke, unser Staatsoberhaupt. Es ist immer noch kurz nach dem Krieg, und in einer ausschweifenden Mischung aus deutscher Demut, politischer Korrektheit und beginnender Tüteligkeit behauptet der Bundespräsident: „Der Ball war drin.“

Selbst Geoff Hurst ist sich da später weit weniger sicher („Tor? Eher nicht“), und irregulär ist auf jeden Fall sein 4:2, denn bei diesem letzten Konter muss er an englischen Fans vorbeisprinten, die schon feiernd das Spielfeld bevölkern. Dieses Chaos nutzt Helmut Haller zum geistesgegenwärtigen Stehlen des Balles. Daheim in Augsburg schenkt er ihn seinem Sohn Jürgen zum fünften Geburtstag, und der übt mit dem runden Ding so fleißig im Garten, dass er es später zum Bundesligaspieler bringt. Manchmal leiht Papa Haller den Ball auch aus, beispielsweise zu Festen, Ausstellungen und Betriebsjubiläen. Bis sich, dreißig Jahre danach, die Engländer am Kopf kratzen: „Wo ist eigentlich unser WM-Ball?“

„Ich habe ihn nicht“, schwört Hurst. Als dreifacher Finaltorschütze hält sich der von der Königin zum Ritter geschlagene Sir Geoffrey urplötzlich für den rechtmäßigen Besitzer des Balls, und die englische Revolverpresse zieht in den Krieg und startet im Rahmen einer emotional aufgewühlten Kampagne die große Heimholaktion. Im April 1996 ist es schließlich so weit. Hallers Sohn fliegt mit dem Objekt der Begierde nach London, und der Ball wird nach der Landung von Hurst im Blitzlichtgewitter der Kameras geküsst. Danach landet er in einer Vitrine auf der „Waterloo Station“, und gut eingefettet krönt er inzwischen das National Football Museum in Lancashire.

Hatte Haller ein Herz für Hurst? Glaubhafter klingt die These, eine patriotische englische Investorengruppe habe an den pfiffigen Augsburger eine Lösegeldzahlung von 240 000 Mark geleistet, worauf das Boulevardblatt „Sun“ sofort schäumte: „Dieser gierige Kraut.“ So oder so: Helmut Haller war mit dem WM-Ball besser bedient als Hurst mit seinem Trikot. Die Engländer sind als Erfinder des Fairplays offenbar so pingelig, dass sie dieses fragwürdige Hemd nicht einmal mehr mit der Kneifzange anpacken wollen.

Für Sir Geoffrey ist das alles ziemlich blamabel. Und neidisch blickt „Sotheby`s“ nach München, denn anders als in London fanden sich dort neulich problemlos Käufer, als Adolf Hitlers Socken, Eva Brauns burgundrotes Sommerkleid und Hermann Görings seidene Unterhose versteigert wurden.

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