Jugendakademien der Bundesliga

Wie sieht eine Bundesliga-Fußballakademie heute, im Jahr 2020, aus? Ein Blick in die Akademie des VfB Stuttgart.

Von Luca Wodtke
Junge Talente sind unsere Zukunft. Das hat der deutsche Fußball erst nach einem sehr enttäuschenden Abschneiden bei der Europameisterschaft 2000 erkannt. Bis 2002 wurden 500 Millionen Euro in den Neuaufbau der Jugendarbeit in der Bundesliga investiert. Die strenge Regeländerung zwingt alle 36 lizenzierten Erst- und Zweitligisten, Jugendakademien zu betreiben. Betreibt ein Verein keine Jugendakademie, verliert er seine Lizenz und kann damit nicht mehr in den höchsten Spielklassen der Bundesliga spielen. Heute betreiben neben den 36 Erst- und Zweitligisten auch zehn Vereine in der dritten Liga und neun Vereine in den Regionalligen eine anerkannte Jugendakademie. Neben der sportlichen Ausbildung der Jungen sind die Akademien auch ein Zuhause, von dem vor allem die jüngsten Talente profitieren.

Stuttgart, die Stadt, in der Mercedes-Benz und Porsche ihren Ursprung haben, liegt im Süden Deutschlands im Bundesland Baden-Württemberg. Der größte Fußballverein der Stadt ist der VfB Stuttgart, der in dieser Saison in der zweiten Liga der Bundesliga spielt. Der VfB Stuttgart steht für eine nachhaltig erfolgreiche Jugendarbeit. Aktuell sind mehr als 100 Spieler, die über drei Jahre in den Jugendmannschaften des Vereins ausgebildet wurden, in den höchsten europäischen Profiligen aktiv. Mit Spielern wie Sami Khedira, Mario Gomez, Antonio Rüdiger, Joshua Kimmich, Timo Werner und Serge Gnabry kommen einige Weltklassespieler aus der Region und spielen in den großen europäischen Wettbewerben. Selbst Arsenal-Erstliga-Torhüter Bernd Leno kam aus der Stuttgarter Akademie.

Heute wird das Nachwuchsleistungszentrum von Rainer Mutschler geleitet, einem Mann, der sich seit vielen Jahren in den verschiedensten Sportarten engagiert. 1988 war er Cheftrainer des Deutschen Skiverbandes. Von 2000 bis 2017 arbeitete Mutschler als Geschäftsführer der VfB Marketing GmbH und saß im erweiterten Vorstand des Vereins. Er arbeitete 17 Jahre lang erfolgreich im Mercedes-Benz Stadion und verhalf dem Verein zu großen Vermarktungserfolgen. Nach seiner Zeit im Fußball wechselte Mutschler in die Deutsche Eishockey Liga, wo er beim Zweitligisten Towerstars Ravensburg als Leiter Marketing und Sponsoring tätig war. 2019 kehrte er nach Stuttgart zurück, auf Wunsch des Vereinsbeirats, der Mutschler als Mitglied des Präsidiums haben wollte. Doch es kam anders: Der 60-Jährige wurde auf Wunsch des ehemaligen deutschen Nationalspielers Thomas Hitzelsperger Leiter des Nachwuchsleistungszentrums des VfB.

Mit dem so genannten Erweiterten Talentförderprogramm, das alle Profifußballvereine in Deutschland dazu verpflichtet, eine anerkannte Jugendakademie zu betreiben, wurde 2002 auch eine weitere neue Regel eingeführt: Alle Akademien der 36 Erst- und Zweitligisten müssen dafür sorgen, dass zu jedem Zeitpunkt mindestens 12 Jungen in ihrem Kader für die deutsche Nationalmannschaft spielberechtigt sind. Diese Regelung wird mit jährlich 80 Millionen Euro beibehalten und hat dafür gesorgt, dass etwa zwei Drittel aller Jugendspieler der Bundesliga für die deutsche Nationalmannschaft spielen können.

Entsprechend dieser Regel sagt Mutschler, dass „der [VfB] sich als Nachwuchsschmiede im Wesentlichen auf heimische Talente konzentriert, in den jüngeren Altersklassen ’nur‘ auf lokale und regionale Talente“. Die jüngeren Altersklassen, die er damit meint, sind die U11 bis U16. Der Verein ist der Meinung, dass diese jungen Spieler nicht in einem so jungen Alter zentralisiert werden sollten. Das bedeutet, sie von ihren Familien zu trennen und sie zu bitten, quer durch das Land zu ziehen. „Ein weiterer Grund, warum wir uns in den Jugendmannschaften nur auf regionale Talente konzentrieren, ist, dass wir davon überzeugt sind, dass wir genügend Talente aus der Metropolregion Stuttgart/Mittlerer Neckar haben. Internationale Talente berücksichtigen wir nur im Leistungs- und Übergangsbereich [U17-U21]“, sagt Mutschler. Der Schritt, nach internationalen Talenten zu scouten, wird dann vollzogen, wenn in den eigenen jüngeren Jahrgängen des VfB nicht genügend Ausnahmespieler herangewachsen sind. Das kommt aber nur selten vor.

Die Hauptsprache der Schulen, die die Jungs besuchen, ist Deutsch. Da es sich bei den VfB-Talenten in der Jugendakademie überwiegend um einheimische Talente handelt, ist das Übersetzen für Rainer Mutschler und sein Team kein Problem. „Deutsch ist die Sprache unserer Jugendakademie. Übersetzer sind im Nachwuchsbereich nicht nötig, das wird nur in der ersten Phase im Profibereich bei ausländischen Neuverpflichtungen, die keine Deutschkenntnisse haben, praktiziert. Englisch ist auch immer eine Option, aber wir ziehen es vor, alles auf Deutsch zu halten“.

Es gibt so viele junge Burschen, die es in den Profibereich schaffen wollen. In einer Jugendakademie ist es die Aufgabe der Mitarbeiter, den Allround-Spieler zu finden, der der Mannschaft in allen Belangen nützt. „Das wollen wir durch intelligentes Scouting erreichen, das nicht nur die sportlichen, sondern auch die persönlichen Eigenschaften und Fähigkeiten betrachtet und testet“, erzählt Mutschler. Bei den ganz jungen Talenten, unter 14 Jahren, wird persönlich gescoutet. Für die älteren Talente, die bereits zwischen verschiedenen Fußballmannschaften hin- und hergereist sind, kann eine Technologie, die die Statistiken eines Spielers anzeigt, dabei helfen, die Spieler zu finden, die die größte Bereicherung für eine Mannschaft sein werden. „Fußballspieler werden Vorbilder sein. Der perfekte Spieler muss heute in der Lage sein, die Mannschaft gut zu repräsentieren. Das bedeutet, dass wir uns beim Scouting alle Aspekte eines Spielers ansehen. Dazu gehören auch Familien- und Umfeldbesichtigungen und ausführliche persönliche Gespräche mit Spielern und Eltern“.

Im Januar 2007 öffnete das VfB-Jugendinternat seine Pforten. Heute leben 22 der 150 schulpflichtigen Talente in diesen Räumen, ganz in der Nähe der prestigeträchtigen Mercedes-Benz Arena. Oliver Otto leitet das Internat mit drei Sozialpädagogen, einem Koch, einer Hauswirtschafterin und acht Lehrern. So wird den Talenten ein Umfeld geboten, das auf ihre Entwicklung als Sportler, Schüler und Mensch zugeschnitten ist. Die Zusammenarbeit mit der Schule wurde in den letzten Jahren ausgebaut, was dazu führte, dass der VfB zusätzliche Unterkünfte in der Nähe des Stadions anmietete. Für einige Spieler ist jedoch die familiäre Geborgenheit besonders wichtig. Gastfamilien stellen daher eine weitere wichtige Form der Unterbringung dar. Der VfB arbeitet mit verschiedenen Familien zusammen, die ganz in der Nähe des Vereinsgeländes wohnen und die Spieler in ihren Familienalltag integrieren. „Talente, die bei uns ‚wohnen‘, sei es im Voll- oder Teilzeitinternat, werden von uns voll unterstützt. Dazu gehört die schulische, persönliche und sportliche Ausbildung und Entwicklung. Hierfür setzen wir verschiedene Pädagogen ein: Sozialpädagogen, Team- und Internatsbetreuer. Außerdem haben alle Trainer eine pädagogische Grundausbildung“, sagt Mutschler.

Das 2002 eingeführte Jugendförderungsprogramm sorgte auch dafür, dass in jedem Verein eine ausreichende Anzahl qualifizierter Mitarbeiter beschäftigt wurde. Außerdem wurde festgelegt, dass jeder der 36 Erst- und Zweitligavereine mit den örtlichen Schulen zusammenarbeiten muss, um sicherzustellen, dass die jungen Spieler in allen Lebensbereichen umfassend gefördert werden. „Im Rahmen der Persönlichkeitsentwicklung werden verschiedene soziale und gesellschaftspolitische Veranstaltungen besucht und Themen behandelt, um den Horizont der Jugendlichen zu erweitern und ihnen die Möglichkeit zu geben, auch außerhalb des Leistungssports Erfahrungen im ‚echten Leben‘ zu sammeln“, sagt Mutschler und verweist auf die Initiativen, die die Mitarbeiter des VfB Stuttgart ergreifen, um den jungen Talenten mehr als nur Fußball beizubringen.

Um allen Jugendspielern eine optimale Betreuung zu ermöglichen, hat der VfB Stuttgart im Sommer 2009 das VfB-Teilzeitinternat eingerichtet. Die Jugendlichen verbringen den Nachmittag im VfB Clubzentrum, um ihre Hausaufgaben zu erledigen und sich auf eventuelle Aufgaben und Prüfungen vorzubereiten. In einem eigens eingerichteten Ruheraum können die Spieler zudem entspannen, Musik hören, essen und trinken oder schlafen. Im Schuljahr 2017/2018 hat der VfB zudem gemeinsam mit einer lokalen Schule den VfB Campus ins Leben gerufen, in dem Jugendspieler nun dreimal wöchentlich von hochqualifizierten Lehrern in den vom Fußballverein zur Verfügung gestellten Räumen unterrichtet werden. „Nur 1,5 Prozent aller Talente schaffen es in der Bundesliga bis ins Profilager“, sagt Mutschler. „Umso wichtiger ist es für uns, allen Jugendlichen eine fundierte schulische Ausbildung zu ermöglichen und sie durch Weiterbildungen auf ihre berufliche Zukunft vorzubereiten“.

Rund 70 VfB-Jugendspieler besuchen eine der drei vom DFB ausgezeichneten Eliteschulen des Fußballs im Großraum Stuttgart sowie die VfB-Partnerschule und erhalten dort eine auf ihre Trainingsanforderungen zugeschnittene Ausbildung. Darüber hinaus stehen im Teilzeitinternat werktäglich bis zu sieben Lehrer zur Verfügung, die die Schüler intensiv betreuen. „Sportliche und schulische Anforderungen werden ideal aufeinander abgestimmt“, sagt Mutschler. „So erreichen wir bei unseren Jugendlichen einen Schulabschluss von 98 Prozent, von denen mehr als 75 Prozent die Fachhochschul- oder Hochschulreife haben.“ 2019 geht der VfB in seinem Engagement für eine gute Ausbildung seiner Fußballtalente noch einen Schritt weiter und führt mit der VfB Stuttgart Akademie ein Hochschulstudium ein. Diese zeigt den Talenten eine Welt nach der Schule und neben oder ohne Profifußball. Schließlich ist es keine Selbstverständlichkeit, dass Fußballtalente nach so vielen Stunden auf dem Platz als Schüler eine hochwertige universitäre Ausbildung genießen.

Der Verein legt auf die schulische Ausbildung ebenso viel Wert wie auf die sportliche und persönliche Entwicklung seiner Spieler. An spielfreien Wochenenden dürfen die jungen Talente nach Hause zu ihren Familien fahren. Denn das Gefühl der familiären Geborgenheit und die optimale Unterstützung in allen Lebensbereichen sind die beiden wichtigsten Bausteine des Erfolgs. „Die jungen Leute aus unserem Internat fahren regelmäßig nach Hause, was von uns auch finanziell unterstützt wird. Außerdem kommen die Eltern regelmäßig zum Training und zu den Spielen. Außerdem haben die Jugendlichen Schulferien und Pausen, die auf das Training und die Spiele abgestimmt sind“, sagt Mutschler.

Der Schritt von der Jugend in die Profimannschaft ist nicht einfach. Es ist ein echter Schritt nach oben, und nur sehr wenige Talente schaffen den Sprung in die Bundesligamannschaft. „Im sogenannten Übergangsbereich [der Übergang zwischen Jugendakademie und Profimannschaft, meist um die U19 – U21] nehmen unsere besten Jugendlichen regelmäßig an Trainingsmaßnahmen der Profimannschaft teil. Darüber hinaus werden individuelle Trainingsmaßnahmen durchgeführt“, erklärt Mutschler. Neben der Heranführung an das sportliche Niveau müssen die jungen Spieler auch lernen, sich von der vertrauten und sicheren Umgebung der Jugendakademie zu lösen. Ist die Profimannschaft erst einmal erreicht, stehen die Talente als Vorbilder ständig im Rampenlicht, und jeder Fehltritt in ihrem Leben wird analysiert. Damit die Talente unter diesem immensen neuen Druck nicht zusammenbrechen, stellt der VfB sicher, dass Psychologen und Therapeuten den Spielern jederzeit zur Verfügung stehen. Die Spieler werden von der VfB-Jugendakademie bis zum Schritt in die Bundesliga-Profimannschaft begleitet und haben auch dann immer ein großes Netz an Profis, auf das sie zurückgreifen können.

Wenn man sich diese Jugendakademie anschaut, kann man nur erahnen, wie viele Jahre es gedauert hat und vor allem wie viel Geld fließen musste, um dieses Niveau an Professionalität und Leidenschaft in die Jugendakademien der Bundesliga zu bekommen. Es ist wichtig zu erkennen, dass es in den letzten 18 Jahren kaum Probleme mit Regelverstößen der Vereine gab: Sie halten alle zusammen und wollen ihren jungen Talenten die besten Chancen geben, mit oder ohne Profifußball. Mit motivierten Köpfen wie Rainer Mutschler kann dieses Programm noch viele Jahre lang große Talente hervorbringen, die mehr als nur Fußball verstehen. Die großen Fußballligen der Welt können sich ein Beispiel an Deutschland nehmen und in ihre eigenen Jugendakademien investieren. Klug investiertes Geld ist nicht verschwendet, und was ist eine sinnvollere Investition als unsere Jugend, die Zukunft.

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