Kaum ein anderer weiß mehr über Talente
Von Luca Wodtke
Ralf Rangnick hat trotz seiner großen Erfolge nie seine Wurzeln vergessen. Der „Professor“, wie ihn viele nennen, wurde in der Süddeutschen Kleinstadt Backnang geboren. Ein Mann, der einen Verein aus den unteren Ligen des deutschen Fußballs in kürzester Zeit in die UEFA Champions League geführt hat, weiß, wie man mit Talenten umgeht. Rangnick ist einer der größten Sportvisionäre unserer Zeit.
Wir sprachen über…
...seine Trainervorbilder
Deswegen blieb mir als jungem Trainer kaum etwas anderes übrig, als über den deutschen Tellerrand hinauszuschauen. In den 80ern war da vor allem Arrigo Sacchi mit dem AC Mailand, der damals schon mit kompletter Raumdeckung gespielt hat. Das war etwas anderes als diese für Deutschland typische gegnerorientierter Manndeckung. Sacchi war für mich ein wichtiger Orientierungspunkt.
Und dann gab es noch Valeri Lobanowski, den Trainer von Dynamo Kiew, die in meiner Heimatstadt gegen Viktoria Backnang gespielt haben. Lobanowski hat gezeigt, was es ausmacht, wenn eine Mannschaft wirklich ‘Pressing’ auf den Platz bringt und wie schwer, dass das Spiel für den Gegner macht. Nach diesem Spiel habe ich mir viele Trainingseinheiten von Dynamo angeschaut, wenn sie im Trainingslager in Ruit waren.
Zu diesen zwei Trainern, die meinen Weg auf jeden Fall beeinflusst haben, kommt noch Helmut Groß, mit dem mich bis heute eine enge Freundschaft verbindet. Wir haben in Stuttgart, Hoffenheim und bei RB Leipzig zusammengearbeitet.”
... den oft zitierten "Straßenfußball"
Der Schlüssel der Beliebtheit des Straßenfußballs liegt in den Variationen, die zum Straßenfußball gehören. Das ganze steht im Motto: „Wiederholen ohne zu wiederholen!“
Alles was fordert und fördert sollte dann herausgeholt werden. Hierzu gehört Spaß, Spielwitz, Dynamik, Leidenschaft und Siegeswillen. Taktik und Strategie ergeben sich nebenbei im Wettkampf. Die Möglichkeiten des Straßenfußballs können mit wissenschaftlichen Mitteln, bis hin zur KI überwacht und begleitet werden. Besser aber, der Trainer kann sich auf seine Erfahrung und ein geschultes Auge verlassen.
Leider sind solche Trainer, die das können, relativ selten und auch nur mit viel Mühe und Geduld auszubilden. Ab und zu gibt es aber Ausnahmetalente, die schnell begreifen und nur Monate brauchen, wofür andere Jahre benötigen.”
... sein unglaubliches Auge für Talente
Eine Einschätzung ist aber immer subjektiv. Die Scouts in den Vereinen müssen früh erkennen, welche positiven Merkmale eines Talents auf die Mannschaft wirken und was aus ihm noch werden kann. Da gehört in erster Linie auch die Mentalität des Spielers dazu. Das ist, wie ich das gerne sage, das Talent der Persönlichkeit. Hier gibt es immer eine Chance auf Verbesserung, siehe das Beispiel Joshua Kimmich. Verantwortliche beim VfB Stuttgart woll mit 18 noch nicht einmal einen Kaderplatz in der zweiten Mannschaft geben wollten – das war der Grund, wieso es überhaupt eine Chance für Leipzig gab, Kimmich für zwei Jahre auszuleihen.”
... warum Talente immer jünger werden
… woher diese Entwicklung kommt
… welche Rolle das Taktikverständnis heute spielt
Es ist heute eigentlich absolute Seltenheit, dass ein Spieler in der Bundesliga Karriere macht, wenn er nicht schon mit 13 bei einem der Bundesligavereine gespielt hat. Wenn man sich die deutsche EM-Mannschaft von 2016 anschaut, dann gab es nur einen einzelnen Spieler, der seine Jugend nicht bei der Akademie eines Profiklubs durchlaufen hat und dies war Jonas Hector. Das zeigt ja, dass der Beruf der Fußballprofis, inklusive dem Wissen “Wie ernähre ich mich? Wie lebe ich? Auf welche Faktoren kommt es an?”, zu einem Ausbildungsberuf geworden ist. Deswegen ist es eigentlich klar, dass ein 17-Jähriger, soweit er die richtige Mentalität hat und auf alles, was er gelernt hat achtet, bereit ist für Bundesliga-Fußball. Ob diese jungen Spieler später die Chance kriegen liegt daran, ob die Trainer den Mut haben, sie spielen zu lassen.
In Deutschland ist es schon so, das viele junge Spieler spielen dürfen. Schwieriger ist es für junge Spieler in Italien, da hier noch oft Ex-Profis die Trainer sind und diese ihre Jugendspieler so sehen wie sie damals selber ausgebildet worden sind. Das ist natürlich heute nicht mehr realistisch. Deshalb ist es leider in Italien auch selten, dass ein 19 oder 20-jähriger Stammspieler ist. Meistens spielen sie nur in den kleineren Vereinen. In den Top-Ligen der Welt ist es so, dass in Deutschland die größte Anzahl von jungen Spielern debütieren. In England werden es jetzt mehr, vor allem dank den ausländischen Trainern bei den Top-Klubs.
Es gibt dazu noch eine ganz interessante Geschichte: von den acht Mannschaften im Viertelfinale der Champions League 2018 hatten 180 von den 200 Spielern mit 17 Jahren bereits ausschließlich Männer Fußball gespielt und waren nicht mehr in Jugendmannschaften, obwohl sie theoretisch noch zwei Jahre in der U19 hätten spielen dürfen. Dies bestätigt das, was ich gesagt habe: Der Verein muss dafür sorgen, dass diese Ausnahmetalente mit 17 schon Männerfußball spielen können.“