Jürgen Klinsmann: „Lass es – du brichst dir das Genick“

Jürgen Klinsmann hat den FC Bayern am 14. November 1987 volley erwischt, rücklings und horizontal. Als Akrobat schööön ist der Stuttgarter Kunstschütze in die Luft gegangen – und nach seinem historisch wertvollen Fallrückzieher fast im Wassergraben der Cannstatter Kurve ertrunken, so besoffen war er vor Glück.

Der Ball fliegt von rechts in den Strafraum, und Jean Marie Pfaff spürt sofort: keine Gefahr. Der Flanke des VfB-Verteidigers Günther Schäfer fehlt es an der nötigen Schärfe, schlaff segelt sie in Richtung Bayerntor, in einem viel zu hohen Bogen.
„Soichboga“, sagen dazu wir Schwaben.

Jean Marie Pfaff ist der Torwart des FC Bayern. Der Belgier gehört in seinem Job zu den Besten, aber vor allem ist er ein alter Hase und weiß: Mit dieser schwindsüchtigen Hereingabe fängt kein Stürmer was an. Seelenruhig lehnt er sich deshalb in Gedanken an den Pfosten und wirft zum VfB-Torjäger Jürgen Klinsmann einen mitleidigen Blick hinüber. „Lass es“, sagt dieser Blick, „du brichst dir das Genick.“

Klinsmann lauert in Erwartung des Balles auf Höhe des Elfmeterpunkts, und auch er weiß sofort: Einen Kopfball kann er vergessen, aussichtslos. Neben Klinsmann steht der Bayernverteidiger Hansi Pflügler, der ebenfalls lange genug im Geschäft ist, um die Harmlosigkeit einer Flanke einschätzen zu können. Pflügler schaltet ab, er sieht völlig unbesorgt aus, ja fast desinteressiert. Oder ist er einfach nur paralysiert in Erwartung des Unfassbaren, das da gerade in der Luft liegt? Wenn man fast ein halbes Leben später die VfB-Vereinschronik „Stuttgart kommt“ liest, ist sein Verhalten dort so verewigt: „Pflügler hat ein ehrfürchtiges Päuschen eingelegt, als wolle er einem historischen Moment seine Referenz erweisen.“

Es ist der historische Moment des Torjägers Klinsmann. Er ist einer von denen, die eine Flanke nicht abhaken, solange der Ball noch fliegt. Er ist kein normaler Stürmer, er ist hungriger und gefrässiger, er kickt und tickt anders als die meisten anderen, und wenn er an einen Ball mit dem Kopf nicht mehr rankommt, macht er halt etwas Kopfloses. Auf Befehl seines Vollstreckerinstinkts biegt sich Klinsmann also geschwind um die halbe Achse, er hebt ab und legt sich in die Horizontale, mit dem Rücken zum Gras, und dann klappt er sich aus wie eine Schere. Das linke Bein zuckt nach unten, das rechte schnalzt gestreckt nach oben, und volley und mit Vollspann drischt Klinsmann den Ball in der nächsten Sekunde unter die Bayern-Torlatte in der Cannstatter Kurve, während er als Hans-guck-in-die-Luft in die entgegengesetzte Richtung nach Untertürkheim schaut. Fassungslos meldet der Lautsprecher: „1:0 für den VfB.“

„Zugabe!“, brüllen die Siebzigtausend im Neckarstadion.

So eine Zirkusnummer haben die Fußballschwaben noch nie erlebt, die Bayernfans schweigen in ihrer Anteilnahme ergriffen, und der Torwart Pfaff und der Verteidiger Pflügler starren sich wortlos an. Ob sie sich anschließend von Klinsmann ein Autogramm geholt oder in Cannstatt die Kirchenglocken geläutet haben, lässt sich im nachhinein nicht mehr zweifelsfrei ermitteln. Aber die Uhren sind auf jeden Fall um 15.49 Uhr stehengeblieben an jenem denkwürdigen 14. November 1987, als Jürgen Klinsmann in der 18. Minute gegen den FC Bayern nachwies, dass man ein Tor notfalls auch so schießen kann.

Erstmals urkundlich erwähnt ist diese hochkomplizierte Abart des Torschusses in verstaubten Schriften aus dem Jahr 1914, einem Chilenen namens Ramon Unzaga soll das Kunststück seinerzeit unfallfrei gelungen sein. Aber egal, wie der Gaucho es damals gemacht hat: Der Fallrückzieher von Klinsmann war zweifellos faszinierender, er war großes Kino, spontan denkt jeder Augenzeuge an die berühmte Filmkomödie „Akrobat schööön“. In Dauerschleife hat das Fernsehen das Wundertor danach wiederholt, vorwärts und rückwärts, mit faszinierenden Zeitlupenbildern und oft genug unterlegt mit heißer Rockmusik, jedenfalls wusste die ARD-Sportschau endlich, warum sie die Wahl zum „Tor des Jahres“ erfunden hat. Es sind nicht die Nullachtfuffzehntore, die sich der Fußball in die Gedenksteine meißelt, sondern die unnachahmlichen. Das Publikum sehnt sich nach dem ästhetischen Hochgenuss der ultimativen Hexereien, bei denen der Akrobat die Genialität mit dem Wahnsinn verknüpft und den Verstand durch den Instinkt ersetzt.

„Ich weiß nie“, gesteht Jürgen Klinsmann nach dem verrücktesten Tor seiner Karriere, „was ich im nächsten Moment mache.“
Seine Idee mit dem Fallrückzieher fanden jedenfalls alle gut, mit Ausnahme aller Münchner. Der VfB hat sie an jenem stimmungsvollen Samstag dann nämlich vollends aus den Schuhen geschossen, 3:0 hieß es am Ende – und um sich eine Wiederholung des demütigenden Moments für alle Zeiten zu ersparen, haben die Bayern dem Klinsmann dann später die Geldpistole auf die Brust gesetzt und ihn sicherheitshalber gekauft.

Allerdings haben sie dabei einen Aspekt fürchterlich unterschätzt: Klinsmann ist Schwabe. Also hat er die Bayern auch dann noch geärgert, als sie dachten, er sei jetzt einer von ihnen. Vermutlich ist er mit dem „Mir-san-mir“-Blabla beim FC Hollywood nicht ganz klar gekommen, oder die Luft wurde dick, wenn er als Bayernstürmer gelegentlich den Eindruck erweckte, dass er seinen Mitspieler Lothar Matthäus für einen Maulwurf der „Bild“-Zeitung hielt. Jedenfalls hat er die Bayern mit seinem schwäbischen Steißbein manchmal derart vor den Kopf gestoßen, dass die Hausfrau Ruth H. vom Tegernsee eines Tages bei ihrer Zeitung anrief und grantelte: „Der Klinsmann, der hinterfotzige Lümmel, gehört raus.“ Einmal hat der Sauschwob, als er mitten im Spiel ausgewechselt wurde, hinter der Seitenlinie auch noch im Jähzorn ein Loch in eine Werbetonne getreten – und die nächste Tonne, in die er um ein Haar ein Loch gestaucht hätte, war dann Uli Hoeneß.

Das war bei Klinsmanns zweitem Kapitel in München, als Bayern-Trainer. Auch das ist nicht ganz friedlich verlaufen, jedenfalls hat der Bayern-Präsident Hoeneß am En de gekocht vor Frust und über Klinsmanns „Mannschaftssitzungen mit Powerpoint-Präsentation“ garstig gelästert: „Da haben wir für zigtausend Euro Computer gekauft. Da hat er den Profis in epischer Breite gezeigt, wie wir spielen wollen. Wohlgemerkt: wollen“. Klinsmann Nachfolger Jupp Heynckes dagegen, schäumte Hoeneß, benötige nur „einen Flipchart und fünf Eddingstifte, mit denen er die Aufstellung des Gegners auf die Tafel malt. Da kostet einer 2,50 Euro. Mit Heynckes gewinnen wir Spiele für 12,50 Euro und bei Klinsmann haben wir viel Geld ausgegeben.“ Vermutlich hätte ihn auch Hoeneß am liebsten als hinterfotzigen Lümmel beschimpft, den wir Schwaben ihm als trojanisches Pferd in den Stall eingeschleust haben, um die Bayern zu untergraben.

Selbst schuld. Denn eigentlich hätte Hoeneß, zumal als gebürtiger Ulmer, schon an jenem historischen Novembersamstag 1987 merken müssen, dass Klinsmann ein unbestechlicher Schwabe ist, mit dem Herz auf dem richtigen Fleck, auf Höhe des Brustrings. Wer zwei Augen im Kopf hat, sagen alle Gefühlsforscher, konnte bei diesem Fallrückzieher doch sofort sehen, was los ist: Die Gnadenlosigkeit, mit der Klinsmann auf Kosten der Bayern vollstreckt, wie er danach brüllend losrennt, am rechten Pfosten vorbei hinters Tor, betrunken vor Glück stürzt er dann in der Cannstatter Kurve fast in den Wassergraben, fällt auf die Knie, schlägt die Hände vors Gesicht und geht mit seinen Gefühlen Gassi. „Ich habe“, sagt er hinterher, „weitergespielt wie in Trance.“
So ein Fallrückzieher ist das Höchste der Gefühle, in solchen Momenten erfüllt sich für den Schützen ein Kindheitstraum. Ein Tor kann ergaunert sein, mithilfe der Hand Gottes erzielt oder aus dem Abseits, es kann ein absurdes Elfmetertor nach einer schäbigen Schwalbe sein oder ein billiger Abstauber – das wahre Glück ist der Fallrückzieher.

Sein Denkmal hat sich Jürgen Klinsmann damit gesetzt. Noch in hundert Jahren, wenn er nicht mehr rücklings sechs Fuß über dem Strafraum liegt, sondern sechs Fuß unter der Erde, wird als Kunstschütze das Kapitel 1 in jeder Gebrauchsanweisung für Fallrückzieher sein – auf jeden Fall aber werden die Überlebenden unter den Siebzigtausend im Neckarstadion bis zu ihrem letzten Atemzug von seinem Hexenwerk schwärmen, ihren Enkeln diese Geschichte hier vorlesen und mit glänzenden Augen sagen: „Ich war dabei.“

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