Artikel von Oskar Beck

Diese Geschichte und mehr finden Sie im neuen Sportbuch „UND ALLES WEGEN ALI

 

WM in der Schweiz 1954: „Friedrich, es regnet!“

Wenn man einem Toten zum 100. Geburtstag gratuliert, muss es großartige Gründe geben. Wie bei Fritz Walter. Nur eines ist traurig: Erfolglos habe ich als Kind versucht, seinen 32-Schläge-Rekord auf der Minigolfanlage in Obertal im Schwarzwald zu brechen.

Jedes Jahr flattert mir pünktlich vor der Feriensaison ein bunter Prospekt des Hotels „Belvedere“ in den Briefkasten. Früher brachte ihn der Postbote. Heute kommt er als E-Mail.

Waren Sie einmal im „Belvedere“?

Das Hotel in Spiez am Thuner See gilt seit 1954 als Wallfahrtsort. Jeder anständige Deutsche sollte es mindestens einmal im Leben aufsuchen und vor dem Treppchen am Eingang niederknien, und als ich vor ein paar Jahren eine Nacht dort verbrachte, gab es im Fanshop immer noch das Hemd von Fritz Walter. „Vom Originaltrikot“, garantierte das Hotel, „wurde das Schnittmuster genommen.“

Ich war damals allerdings nicht den weiten Weg in die Schweiz gefahren, um das nachgemachte Hemd des alten Helden zu kaufen, vielmehr wollte ich den unverfälschten Hauch der Heldentat atmen, und zwar dort, wo sich der Kapitän Walter und der Rechtsaußen Rahn, kurz: der „Boss“, damals jeden Morgen vor den Spiegel gestellt und rasiert hatten. Als fragte ich das freundliche Fräulein an der Rezeption: „Kann ich Zimmer 303 haben?“

Sie war untröstlich, als sie mir die bittere Wahrheit eröffnete: „Wir haben umgebaut.“

Zimmer 303, das Basislager des Wunders, gab es nicht mehr. Umso mehr, und damit war mein Tag dann doch halbwegs gerettet, war aber in Umrissen der historische Speisesaal noch zu erkennen, in dem am 4. Juli 1954 die vermutlich wichtigsten drei Wörter des deutschen Fußballs gesprochen wurden – die DFB-Kicker saßen beim Mittagessen, als der Nürnberger Max Morlock plötzlich durchs Fenster starrte und wie elektrisiert aufschrie.

„Friedrich, es regnet!“

Friedrich, das war Fritz Walter. „Wir nagten bei Tisch gerade die Knochen unserer Hähnchen ab“, hat der Kapitän den Glücksmoment später beschrieben. Er mochte feuchtes Gras, auf schlüpfrigem Geläuf kam seine Ballfertigkeit perfekt zum Tragen. Auch Bundestrainer Sepp Herberger zwinkerte: „Fritz, Ihr Wetter.“

Es war ein Wetter, um Helden zu zeugen. Und wir Deutsche brauchten dringend neue Helden. Die alten waren tot.

Der Rest des Tages ist Geschichte, die Bilder vom Wunder sind unauslöschlich ist allen Überlebenden gespeichert. Boss Rahns 3:2. Die patschnassen Ungarn. Die feuchtfröhlichen deutschen Schlachtenbummler in ihren Regenmänteln. Die Stimme von Herbert Zimmermann, die sich zunehmend überschlug, als er durch sein Radiomikrofon in die Heimat schrie: „Aus! Aus! Das Spiel ist aus! Deutschland ist Weltmeister!“

Der 4. Juli 1954 gilt als die wahre Geburtsstunde der Bundesrepublik Deutschland. „Wir sind wieder wer!“, spürte ein einiges Volk. Die geschundene deutsche Seele traute sich über Nacht wieder zum aufrechten Gang zurück – und der deutsche Mann griff zu Lockenstab und Pomade, um so glänzend daherzukommen wie Fritz Walter.

Der war kein Gewöhnlicher. Wenn man einem Toten zum hundertsten Geburtstag gratuliert wie jetzt diesem Pfälzer, müssen schwerwiegende Gründe vorliegen.

Wo fangen wir an?

Am besten mit seinem Tor des Jahrhunderts. Am 6. Oktober 1956 spielte der 1. FC Kaiserlautern vor 110 000 Zuschauern in Leipzig gegen Wismut Karl-Marx-Stadt, gewann 5:3, und Fritz Walter gab dem DDR-Meister den goldenen Schuss. In seinem Buch „So habe ich’s gemacht …“ beschreibt er ihn so: „Der von rechts kommende Flankenball senkte sich hinter meinem Rücken. Da ließ ich mich nach vorne fallen, fast in den Handstand und schlug mit der Hacke zu. Aus zwölf, fünfzehn Metern Entfernung flog der Ball haarscharf ins obere Toreck. Dass es ein Tor wurde, war Glück. Dass ich in dieser Situation aber überhaupt an den Ball kam und ihn traf, das war kein Glück.“

Es war Können. Er war ein zärtlicher Ballstreichler, und alte Schriften schildern ihn als genialen Spielmacher und Strategen, der nebenher verteidigte und vollstreckte. In 61 Länderspielen schoss Fritz Walter 33 Tore. Aber so gut wie keines davon kam live und in voller Länge im Fernsehen, und schon gar nicht in Farbe, die Bilder lernten gerade erst laufen. Wie gut Fritz Walter war? Es ist wie bei Muhammad Ali, dessen Trainer Angelo Dundee gesagt hat: „Den besten Ali haben wir nie gesehen.“ Denn in seinen besten Jahren war Ali als Kriegsdienstverweigerer gesperrt.

Der junge Walter zog in den Krieg und hat an der Front seine beste Zeit verloren. 1940 hatte ihn der Reichstrainer Herberger erstmals nominiert, er war 19, heute würde man Wunderkind sagen, und gegen Rumänien schoss er auf Anhieb drei Tore. 1945 kehrte er dann aus der russischen Gefangenschaft heim, 1951 in die Nationalelf zurück, und er sagte: „Der Krieg hat mir die besten Jahre gestohlen.“ Er war jenseits der 30. Eigentlich war alles vorbei. Aber es fing erst an.

Das zweite Leben.

Walter spielte jetzt nicht mehr für Hitler, aber immer noch für Herberger. Die Zwei waren wie Vater und verlängerter Arm, der Filigrane setzte die Ideen des Trainers um, und umgekehrt war Herberger sein Trauzeuge, als er 1948 die gutaussehende Italia Bortoluzzi zum Altar führte. Besorgt tuschelten die Pfälzer angesichts der feurigen Italienerin: „De schwarz Hex mit de rote Fingernägel, hoffentlich macht se de Fritz net fertig.“ In Wahrheit hat sie ihn so richtig in Fahrt gebracht. Zweimal wurde Kaiserslautern Deutscher Meister, und Atlético Madrid und Inter Mailand lockten mit Geldsäcken. Erfolgslos. „Dehäm is dehäm“, soll der Fritz gesagt haben.

Dann kam die WM 1954.

Das Wunder wird immer mit dem „Geist von Spiez“ erklärt, aber es steckte auch der Geist von Schwarzwald dahinter. Ich weiß das, mein Opa Artur stammte aus Baiersbronn-Obertal, wir feierten dort immer unseren jährlichen Familientag, und im Gasthof „Blume“ am Eingang des Fleckens haben Herbergers Helden bis heute ihre Spuren hinterlassen, die alten Fotos vom Wirt mit dem Sepp und dem Fritz halten die glorreiche Vergangenheit wach. Vor der WM in der Schweiz tankten die angehenden Weltmeister in Obertal die Luft für das Wunder, und auf dem Minigolfplatz stellte Fritz Walter einen neuen Rekord auf: 32 Schläge. Ich habe als Bub später jedes Jahr versucht, ihn zu brechen, aber irgendwann erfolglos kapituliert.

Mit acht Schlägen haben es bei der WM dann die Ungarn unseren Deutschen besorgt. Ferenc Puskas und seine Puszta-Zauberer, unbesiegt in vier Jahren, zerlegten das Team um Fritz Walter in der Vorrunde in alle Einzelteile, Endstand 8:3. In Erwartung einer Niederlage hatte Herberger seine besten Spieler sicherheitshalber weggelassen, und er hätte die Demütigung besser auch seinem sensiblen Kapitän erspart. „Jahrelang war ich vor jedem Spiel so aufgeregt, dass mir schlecht wurde“, gestand Walter einmal, „ich saß dann oft bis kurz vor Anpfiff auf dem Klo.“ Das probate Gegenmittel fand Herberger, ein Fuchs in Sachen Menschenführung, aber im „Belvedere“: Auf Zimmer 303 kombinierte er den Grübler mit dem sorglosen Helmut („Boss“) Rahn, einer Stimmungskanone. „Helmut“, sagte der Chef, „baue Se mir den Fritz auf.“

Die Zwei ergänzten sich derart, dass der Grübler dann im Halbfinale zwei Elfmeterbälle seelenruhig im österreichischen Kasten versenkte und der Boss im Finale gegen die unschlagbaren Ungarn erst das 2:2 schoss und dann Herbert Zimmermann auch noch den Schrei aller Schreie entlockte: „Aus dem Hintergrund müsste Rahn schießen, Rahn schießt, Tooor, Tooor, Tooor – Tooor!“

Fritz Walter bekam als Weltmeister 2300 Mark, einen Motorroller, eine Couchgarnitur, einen Fernseher, einen Staubsauger und eine Nähmaschine. Er schrieb den Bestseller „3:2“ und spielte, um die verlorenen Kriegsjahre nachzuholen, dann auch noch die WM 1958 in Schweden. Und um ein Haar wäre es dort zum finalen Königsduell gekommen: Der 37-jährige Fritz Walter gegen den 17-jährigen Pelé.

Ein furchtbares Halbfinale hat den Traum dann zerstört, speziell den des Chronisten hier, der sich achtjährig seiner ersten WM hingab. Ein Bub vergisst nichts. Ich lag vor dem Radio und habe erst gezittert und am Ende geheult. Es handelte sich um eine der damals sehr beliebten Musiktruhen, links war das Fach mit dem Eierlikör und dem Kognac, rechts der Plattenspieler mit dem Radio, und aus dem brüllten 50 000 Schweden ihr „Heja! Heja!“ an jenem fürchterlichen Abend, der damit endete, dass uns Herbert Zimmermann an die Heimatfront durchgab, wie Fritz Walter gefoult und von den Cotrainern Schön und Gawliczek vom Platz getragen wurde, den Kopf in beide Hände vergraben. Für den Rest des Spiels hinkte er wie ein Kriegsversehrter auf Rechtsaußen.

Es war Fritz Walters letztes Länderspiel. Danach wurde er Ehrenspielführer, unter anderem eine Straße, eine Schule, ein Triebwagen der Bundesbahn, ein Sekt, ein Fußballturnier, eine Stiftung und das Stadion am Betzenberg wurden nach ihm benannt, und 2002 ist er zu Grabe getragen worden. Aber er lebt.

Denn ein großer Toter stirbt nie. Im „Belvedere“ ist jahrzehntelang sein Trikot nachgebaut worden, und flankierend gab es in Deutschland anlässlich eines runden Geburtstags des Berner Wunders für 14,90 Euro auch noch einen Regenschirm mit dem Aufdruck „Fritz-Walter-Wetter“. Er war dem Schirm nachempfunden, den man dem deutschen Kapitän hingehalten hatte, als ihm FIFA-Präsident Jules Rimet damals im Wankdorfstadion den WM-Pokal überreichte.

Es war ein Sauwetter am 4. Juli 1954 – aber so hat es der Fritz gewollt.

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