Artikel von Oskar Beck

Diese Geschichte und mehr finden Sie im neuen Sportbuch „UND ALLES WEGEN ALI

 

Diego Maradona: „Ich habe Gott gesehen“

Diego Maradona konnte Dinge, die ein Mensch eigentlich nicht kann. Seine Jünger hielten ihn deshalb für den verlängerten Arm und die Hand des Allmächtigen – und irgendwann, heißt es, kam dann der Tag, an dem er es ihnen glaubte.

Im Sommer 2018 wird die Fußball-Weltmeisterschaft in Russland überschattet von einem skurrilen Auftritt auf der Tribüne in St. Petersburg. Beim Spiel Argentinien gegen Nigeria wird Diego Maradona, sichtlich bedroht vom Wahnsinn, immer wieder in Großaufnahme in alle Welt übertragen.

„Ar-gen-ti-na!“, gröhlt er.

„Li-o-nel!“, fleht er.

Aber vor allem brüllt er verrückte Dinge über die Tribüne, die keiner versteht. Der einstige König des Fußballs ist komplett außer Kontrolle. Abwechselnd fordert er mit ekstatischen Zuckungen eine Nebensitzerin zum Tanz auf, lehnt sich lebensgefährlich über die Brüstung, um die Huldigungen seiner Fans entgegenzunehmen, stimmt wilde Gesänge an, zeigt dem Stadion und der Welt den gestreckten Mittelfinger und hält zwischendurch ein Nickerchen. Als Lionel Messi das sehnsüchtig herbeigerufene Tor erzielt, schwellen seinem Vorgänger auf dem Volksheldenthron die Adern an, auf dem Gipfel des Jubelns („Messi! Messi!“) treten ihm vollends die Augen aus dem Kopf, und als er nach dem Abpfiff die Tribüne verlässt, muss er gestützt werden.

Ins Krankenhaus liefern sie Maradona ein, und die Fußballwelt rechnet noch in der Nacht mit dem Schlimmsten. Doch tags darauf gibt der Wiedergeborene über Instagram Entwarnung, trotzig schreibt er: „Diego wird noch eine Weile da sein.“ Nun erreicht uns gestern die traurige Nachricht: Die Weile ist vorbei.

Diego Maradona ist tot.

Diesmal ist es wahr. Man muss das ausdrücklich sagen, denn viele werden es auf Anhieb nicht glauben, zu oft ist Maradona schon für tot erklärt worden. Gut in Erinnerung ist uns ein argentinischer Reporterkollege, der bei der WM 2010 in Südafrika sagte: „Eine Katze hat sieben Leben, aber bei Maradona haben wir mit dem Zählen aufgehört.“ Auch nach dem bizarren Tribünenstück in St. Petersburg war es so: Infolge eines Herzstillstands, verbreitete ein brandaktueller Wichtigtuer im Internet, sei der Fußballkönig im Krankenhaus verstorben. Glaubhaft und empört widersprach Maradona ein paar Tage später in seiner TV-Show:

Sehe ich aus, als wäre ich tot?

Er sah zumindest nicht gut aus.

Diego Armando Maradona. Man wird dieser grandiosen, verrrückten und unwiederholbaren Gestalt des Fußballs mit einem Nachruf nicht gerecht, man braucht zwei: Einen für den überirdischen Fußballgott – und den anderen für den armen Kerl abseits des Spielfelds, der ohne Ball am Fuß nicht immer klar kam und sich orientierungslos verirrte im unterirdischen Labyrinth des Lebens.

Dabei war dieses Leben gut losgegangen. Wer in Fiorito, diesem nicht vom Glück geküssten Stadtteil von Buenos Aires auf die Welt kommt, hat eigentlich keine Chance, aber die hat der kleine Wuschelkopf genutzt. Schon mit 16 war „El Pibe de Oro“, der Goldjunge, alt genug für das erste Länderspiel, und sein argentinischer Nationaltrainer Cesar Luis Menotti sagte: „Was Diego mit den Füßen kann, schaffen wir Sterblichen nicht einmal mit den Händen.“ Nicht viel später begeisterte das Wunderkind beim FC Barcelona und SSC Neapel, als der mittlerweile beste Fußballer der Welt.

Er war vor allem der König der Napolitaner, und unvergesslich bleibt für alle, die dabei waren, seine One-Man-Show vor dem UEFA-Cupfinale 1989 gegen den VfB Stuttgart. 70 000 Schwaben saßen im Neckarstadion, als sich der Zauberer beim Warmup am Anstoßkreis den Ball auf den Fuß schaufelte und zu jonglieren begann. Der Ball hüpfte auf seinen anderen Fuß, dann aufs Knie, auf die Brust, auf den Kopf, ruhte sich kurz aus im Nacken, und zurück ging es, Kopf, Brust, Knie, Fuß. Minutenlang ging das so, kein einziges Mal gestattete der Zauberer dem Ball die Kontaktaufnahme mit dem Boden, und 70 000 Schwaben saßen irgendwann nicht mehr, sondern standen und feierten („Diego! Diego!“) diesen Zirkusakrobaten, der ihnen das größte Erlebnis ihres Zuschauerlebens schenkte. Ich habe an dem Abend für die Sendung „Sport unter der Lupe“ einen Film gedreht und stand staunend an der Seitenlinie, und als Maradona, um den pünktlichen Anstoß nicht zu gefährden, den Ball dann doch endlich fallen ließ, sagte mein Kameramann: „Jetzt können wir gehen. Was Besseres kriegen wir heute nicht mehr.“

Noch besser war Maradona höchstens bei der WM 1986 in Mexiko, als er sein Land auf den Thron beförderte. Im Viertelfinale tanzte er von der Mittellinie aus an sechs Engländern vorbei und vollendete zum Tor des Jahrhunderts. Er wurde dann auch FIFA-Fußballer des Jahrhunderts, zusammen mit Pele. Eine Expertenjury kürte den Brasilianer, eine Internetjury den Argentinier. Den unsinnigen Gelehrtenkrieg, wer der Bessere von beiden war, hat der brasilianische Weltmeistertrainer Carlos Alberto Parreira später mit der Frage abgewürgt: „Wer war besser – Monet oder van Gogh?“

Weißt Du was, schreib, was Du willst.

Aber bald ging es dann los mit den schlechteren Nachrichten. Eines Tages behandelte Hector Pezzella, der Leiter der Klinik „Güemes“ in Buenos Aires, seinen mit unklaren Symptomen eingelieferten Landsmann und ließ sich mit der verwirrenden Diagnose zitieren: „Ich glaube, Maradona hält sich für einen Gott.“

Waren das die Spätfolgen jenes sagenhaften WM-Spiels anno `86 gegen England? Denn noch ein zweites legendäres Tor hatte Maradona an dem Tag erzielt, unfair, irregulär, mit der nackten Faust. „Das war die Hand Gottes“, behauptete er nach dem Abpfiff. Hielt sich Maradona womöglich sogar für den verlängerten Arm des Allmächtigen? Oder für Gott höchstselbst?

Was Besseres kriegen wir heute nicht mehr.

Seine Jünger, seine Anbeter, haben ihn in diesem Glauben bestärkt. Sie gründeten für ihren Heiligen eine eigene Kirche, die „Iglesia Maradoniana“, wobei sie nicht „Dios“ schrieben, also das spanische Wort für Gott, sondern „D+10+S“ – die „10“ stand für Maradonas biblische Rückennummer. Regelmäßig trafen sich seine bekennenden Fans an seinen Geburtstagen, verehrten ihn andächtig und verkauften als seine Apostel T-Shirts, auf denen stand: „Ich habe Gott gesehen.“ Solche Huldigungen halten auf Dauer nur
die ganz Starken aus. Maradona bekam sie irgendwann nicht mehr auf die Reihe – und seine falschen Freunde, die ihn mit Drogen versorgten, besorgten den Rest.

Mit Mitte 30 begann er dann erstmals vom Sterben zu reden. Bei der WM 1994 war er, der gekrönte König, beim Doping erwischt worden. Er gab bekannt, daß er sich nur wegen seiner Töchter nicht umbringe, und einmal sagte er im Fernsehen: „Viele wollten mich immer tot sehen – ich bin tot.“ Wie ernst es war, begriff die Welt dann spätestens aufgrund folgender Bilder: Ein kleiner, dicker Star federt zur Talkshow beschwingt ins TV-Studio, tanzt Tango mit einer Schönheitskönigin namens Cecilia – und bricht zusammen. Anschließend sieht man ihn wieder im Rollstuhl im Krankenhaus, und die medizinische Fachwelt tuschelt über „irreparable Defekte“, weist auf die Zerstörung von Gehirnzellen aufgrund übermäßigen Kokaingenusses hin und sieht den Star psychisch zerfallen.

Depressionen, Aggressionen, Verfolgungswahn, Suizidgefahr. Zur Wiederbelebung hat man Maradona dann in die Schweiz geschickt, in eine Klinik am Bieler See, zur Bekämpfung seiner Drogensucht, und auf dem Höhepunkt der Therapie verlangte der Professor von ihm: „Ich will, daß Du bei der WM 1998 nochmal groß aufspielst.“ Maradona nickte. Doch kurz darauf streckte er einem Stadionordner in England mittels heruntergelassener Hose seine vier Buchstaben ins Gesicht, und im spanischen Alicante zertrümmerte er im Hotel zwei Türen, einen Tisch und fünf Sessel. Ein Herzinfarkt folgte, da war er 43. Und noch ehe er 50 war, stocherte er mit der Stange derart im Nebel seines Lebens, dass ein psychiatrisch bewanderter Betrachter berichtete: „In einem Hospital hielt sich einer für Einstein und ein anderer für Newton, und als Maradona sagte, er sei Maradona, wurde gelacht.“

Mit allen Mitteln hat Maradona zeitweise versucht, sich im tödlichen Kreislauf zwischen Genie und Wahnsinn zu vernichten. Seine Leber war angegriffen, und erschwerend hinzu kam seine auf 140 Kilo angeschwollene Leibesfülle. Als „Maratonna“ machte er Schlagzeilen, und in höchster Not wurde ihm der Magen halbiert. Anschließend begab er sich ins vorübergehende Exil nach Kuba, ließ sich von Fidel Castro eine Revolutionsmütze schenken, und am Ende hieß die kürzeste aller Überschriften: „Er spinnt.“

Aber er lebte. „Der Bärtige“, sagte Maradona, „rettet mich immer.“ Er meinte nicht den Bärtigen in Kuba, sondern den ihm Himmel, der ihm noch einmal seine Hand lieh: Maradona stand tatsächlich von den Toten auf – und wurde Nationaltrainer.

Vor allem jene Journalisten, auf die Maradona gelegentlich mit dem Luftgewehr geschossen hatte, zeigten sich zunächst skeptisch. Früher, lästerten sie, hatte Diego zaubernd den Ball am Fuß, aber als Trainer hat er ein Brett vor dem Kopf. Er hat es ihnen dann genial heimgezahlt, oder besser: genital. Nach der erfolgreichen Qualifikation für die WM 2010 bot er den Reportern in der Pressekonferenz an: „Und jetzt könnt Ihr mir alle einen bla…“ – und blies ihnen den Marsch. „Weißt Du was, schreib, was Du willst.“

Bei der WM in Südafrika lief dann zunächst alles ganz gut. Und wenn Maradona auftrumpfte, blieb kein Auge trocken, ich habe es im Stadion „Soccer City“ in Johannesburg miterlebt. 3:1 hatten seine Gauchos die Mexikaner gerade besiegt, da dachte ein argentinischer Kollege in der Pressekonferenz schon einen Schritt weiter – und fragte Maradona nach dem nächsten Gegner im Viertelfinale, den Deutschen. „No, no, no“, brummte der missmutig, „heute reden wir über unseren Sieg und morgen über Deutschland.“

Die Reporter bohrten weiter.

Habt Ihr es nicht gehört, ich sage nichts über Deutschland!

Nur ein Wort, Diego, bettelte einer …

„Weißt Du was“, ging Maradona darauf in die Luft, „schreib, was Du willst.“ Und dann hat er sich wieder seine dicke, dampfende Havanna reichen lassen, die ihm einer seiner Handlanger warm gehalten hatte, während der Meister sprach.

Maradona stand unter Dampf. Er war nocheinmal El Diego, der Große. Jeden Tag war er als stolzer Gockel in aller Munde, mit seinen Diamanten im Ohr und dem um die Finger gewickelten Rosenkranz zog er magnetisch jede Kamera an, jeder Schritt, jeder Wimpernschlag wurde live übertragen – und Maradona versprach, dass er im Fall des WM-Siegs nackt durch Buenos Aires laufen würde. Dann machte es patsch. 0:4 gegen Deutschland. Aus.

Diego Maradona, der einstmals Vergötterte, wurde fortan immer öfter bedauert und verspottet. Er tat eigenartige Dinge, freundete sich (wie früher mit Ghadafi in Lybien) weiter mit fragwürdigen Staatsführern an, stieg im Wahlkampf in Venezuela für Chavez und später für Maduro („Ich bin sein Soldat“) auf die Bühne, und bittere Worte machten nun häufig über ihn die Runde, von vollgeknallt bis durchgeknallt. Der WM-Auftritt in St. Petersburg passte dazu. Kurz danach ließ er sich in Weißrussland durch ein Stadion kutschieren und gab bekannt: „Ich bin jetzt Präsident des Klubs Dinamo Brest.“ Was er dort kurz tat, ist nie genau bekannt geworden, aber es soll immerhin der beste Vertrag seines Lebens gewesen sein. Am Ende haben auch noch ein Scheich in Dubai, ein mexikanischer Zweitligist und ein Klub in Buenos Aires gutes Geld bezahlt, um sich mit dem alten Weltstar schmücken zu dürfen, der alles konnte, solange er einen Ball am Fuß hatte.

Das Schlusswort soll Ryan Giggs gehören. Der Waliser, der früher bei Manchester United elegant dribbelte, war verglichen mit dem Argentinier nur ein kleines Licht – aber er wusste, wovon er sprach, als er sagte: „Heute gibt es Lionel Messi oder Cristiano Ronaldo. Aber ich habe von Diego Maradona Dinge gesehen, die ich in der Geschichte des Fußballs von keinem anderen sah.“

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