Artikel von Oskar Beck

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WM in Mexiko 1970: „Ita-lia! Ita-lia!“

Das Spiel des Jahrhunderts feiert Jubiläum. Nie war der Fußball wunderbarer und furchtbarer als am 17. Juni 1970: Im Aztekenstadion in Mexiko City steckten sie unserem versehrten Kaiser den Arm in die Schlinge, und daheim war es uns nach dem Strick – zu unerträglich wurden im Laufe der Nacht die Freudenschreie von den Nachbarbalkonen.

Vor ein paar Tagen hat der Chef der Sportredaktion mein Langzeitgedächtnis und meine Eignung für den folgenden Text mit der Frage getestet: „Wo warst Du am 17. Juni 1970?“

Jeder von uns kennt diese historischen Verhöre. Wo warst Du, als Neil Armstrong den Mond betrat? Wo warst Du, als in Berlin die Mauer fiel? Wo warst Du, als die Flugzeuge in die Zwillingstürme in Manhattan flogen?

Wo war ich am 17. Juni 1970?

Daheim im Fernsehsessel bin ich gehockt, wie jeder pflichtbewusste Deutsche, und habe abwechselnd gebrüllt vor Glück und geflucht vor Wut.

Fünfzig Jahre ist es her, aber ich sehe immer noch meinen Vater vor mir, wie er sich mitten in der Verlängerung ans Herz langt und sagt: „Ich muss ins Bett, ich ertrage das nicht.“ Dann ist er geflüchtet und hat mich alleingelassen mit diesem wunderbarsten und furchtbarsten Fußballspiel, das die Welt jemals gesehen hat.

Man muss Italiener sein, um in jener Nacht keine bleibenden seelischen Schäden erlitten zu haben. Wir Deutschen werden mit diesem WM-Halbfinale in Mexiko City, das als Fußball begann und als Folter endete, nie ins Reine kommen, da geht es uns wie Gerd Müller, der am Ende im Gras des Aztekenstadions lag und sich schwor: „Von diesem Spiel will ich mein Leben lang nichts mehr sehen. Ich würde heulen.“

Näher als in jener Nacht sind sich Triumph und Tragödie nie gekommen. Die Gefühle fuhren Achterbahn und Geisterbahn, und das Unbegreifliche ist am Aztekenstadion verewigt mit einer Gedenkplakette, vor der sich die Fußballfans seit fünfzig Jahren verbeugen wie die Pilger in Mekka: „Italia – Alemania. 17 de junio de 1970. Partido del siglo.“ Das Spiel des Jahrhunderts.

Die Dramaturgie des Gruselns und Grauens beginnt in der siebten Minute. 0:1, Boninsegna.

Roberto Boninsegna. Keiner ahnt in dem Moment, dass dieser Name uns Deutsche bald im Schlaf verfolgen wird. Dass er uns schon ein Jahr später wiederbegegnen wird in einer traurigtollen Europacupnacht, in der Günter Netzer das Spiel seines Lebens macht. Mit seinen Gladbachern schießt der “King vom Bökelberg” die amtierenden Weltpokalsieger von Inter Mailand mit 7:1 aus den Schuhen, nur ein Ausfall des Flutlichts könnte die Italiener an dem Abend retten oder der Wurf einer Cola-Dose. Die feuert der Lagerarbeiter Manfred K. dann tatsächlich ab, an den Kopf von Boninsegna, der gerade einen Einwurf macht. Andere schwören, die Büchse habe nur seinen Rücken gestreift. Die Dose war auf jeden Fall leer, aber wie von der Axt erschlagen fällt Boninsegna um. Sieben Minuten lang liegt er regungslos da, das Herbeirufen eines Priesters für die letzte Ölung scheint unumgänglich, und auf der Bahre trägt man den Mausetoten schließlich hinaus. Das 7:1 wird hinterher am grünen Tisch annulliert, Gladbach fliegt raus, Netzers größtes Spiel hat nie stattgefunden, und das übelste Schimpfwort im deutschen Fußball heißt fortan nicht Schauspieler oder Spitzbube, sondern Boninsegna.

Aber das weiß in der siebten Minute am 17. Juni 1970 noch niemand. Man weiß nur, dass es jetzt 1:0 für Italien steht, Tor Boninsegna. Danach stürmt nur noch Deutschland. Schüsse, Kopfbälle, Eckbälle, Querschläger. Facchetti foult Beckenbauer. Im Strafraum stürzt auch Seeler. „Der Sauhund bescheißt uns!“, flucht irgendwann Müller.

Er meint Arturo Yamasaki, den mexikanischen Schiedsrichter. Drei Elfmeter verweigert er den Deutschen und gibt damit die Vorlage für den pfiffigen TV-Spot, den Olli (“Dittsche”) Dittrich später für eine große Elektronikfirma dreht. Er verkörpert darin einen italienischen Toni, wie der normal veranlagte Fußballdeutsche ihn sich vorstellt, glitzernde Goldkette, Mafiasonnenbrille, einen Eimer Gel im Haar und immer einen coolen Spruch auf den Lippen – in dem Fall lacht Toni uns Deutsche dafür aus, dass wir uns vor einer WM immer neue Fernseher kaufen. “Was kaufen die Italiener?”, grinst Toni. “Sie kaufen die Schiedsrichter.”

Jedenfalls wird Yamasaki zum Sargnagel zahlreicher deutscher Bemühungen. Obwohl Beckenbauer nach Facchettis Foul nur noch einen brauchbaren Arm hat (den anderen hat man ihm samt Schulter mit Klebebändern am Körper befestigt), schleppt der Kaiser wie ein Kriegsversehrter Ball für Ball an die Front. „A-le-ma-nia!“, brüllen die Mexikaner. Overath trifft die Latte, einmal tanzt der Ball auf der Torlinie, doch das Bollwerk des Catenaccio hält.

Dann läuft die 90. Minute, und die Italiener rechnen mit allem, nur nicht mit Karl-Heinz Schnellinger. „Carlo“ rufen sie den Kölner, er spielt seit Jahren beim AC Mailand, als Verteidiger. Die Mittellinie überschreitet er dort nie. Doch plötzlich ruft nun von der deutschen Bank einer aufs Feld: „Carlo, vor!“

„Wohin?“, soll Schnellinger noch zurückgerufen haben, denn er kennt sich da vorne nicht aus – aber dann fragt er sich irgendwie durch, schleicht sich vors italienische Tor und macht instinktiv, was er auch hinten immer macht: Mit gestrecktem Bein stürzt er sich in Grabowskis Flanke. 1:1. „Ausgerechnet Schnellinger!“, brüllt Ernst Huberty in sein ARD-Mikrofon. In Deutschland ist es dreiviertel Eins in der Nacht, und es ist das Tor zur Verlängerung. Aber vor allem das Tor zum Verrücktwerden. Was danach passiert, reißt die ganze Welt mit. Mit pochendem Puls dichtet Walter Lutz, der Chefredakteur des Zürcher „Sport“, wie ihn der Wahnsinn übermannt „im faszinierendsten, aufwühlendsten und spannendsten Fußballkampf, den ich je erlebt habe, im mitreißendsten und hochklassigsten Spiel dieses WM-Turniers, in einem Match, in dem in der Verlängerung alle Dämme brechen, sich alle Schleusen großherzig öffnen und in welchem alle fußballerischen Grundregeln über den Haufen geworfen werden.“

Das 2:1 durch Gerd Müller löst die Lawine des Irrsinns. Mit dem Schenkel (oder ist es die Arschbacke?) wurschtelt er den Ball ins Tor, und für die 102 000 Augenzeugen im Aztekenstadion und das weltweite Milliardenpublikum, darunter mich, ist schlagartig klar: Die Italiener sind fertig, ausgelaugt von der dünnen mexikanischen Luft und der Gluthitze, 50 Grad hat es auf dem Platz. Aber stattdessen unterläuft Siggi Held der Fehler seines Lebens. 2:2 durch Burgnich.

Es ist mittlerweile kein Spiel mehr, sondern eine wilde Mischung aus Herzschlag, Hitzschlag und Hitchcock. Ein „Bild“-Reporter lässt sich daheim in der Redaktion an eine Maschine anschließen, die ihm einen Herzschlag von 139 bescheinigt. Als Armstrong den Mond betrat, hatte er 120.

2:3 durch Gigi Riva.

Ich versinke in meinem Sessel. Jeder von uns kennt solche Momente, in denen er vom Glauben abfällt. Und das Unglück wird nicht erträglicher durch das Stakkato der Jubelschreie von den Nachbarbalkonen: „Ita-lia!“

Machen die Italiener uns jetzt vollends fertig? Nein, beschließt Bomber Müller trotzig. Er ist neben dem Brasilianer Pele der Star der WM, neun Tore hat er schon geschossen, und vor Wut macht er jetzt sein zehntes. 3:3. Machtlos steht Gianni Rivera, der Milan-Star, auf der Torlinie und beißt ins Netz. Dann trottet Rivera mit hängendem Kopf zum Anstoß. Angriff der Italiener über links, Ball in den Strafraum.

3:4 durch Rivera.

Schluss. Aus. Als anständiger Deutscher bin ich jetzt fertig mit Gott und der Welt, und in der Nachbarschaft wird das „Ita-lia!“ immer demütigender. Aus Wolfsburg hört man noch, dass die VW-Gastarbeiter den Sieg dort mit Hupkonzerten feiern, und mit dem Schlachtruf: „Kartoffel kaputt. Spaghetti schmeckt gut.“ Es ist halb Zwei in der Nacht – und das einzig Schöne ist, dass der 17. Juni 1970 vorbei ist.

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