Jogi Löw: „Man wird mich mit Fußtritten aus dem Fußball jagen müssen“

Nach Donald Trump sträubt sich auch Jogi Löw gegen eine Amtsübergabe. Der Bundestrainer erkennt das 0:6 gegen Spanien offenbar nicht an, verlangt eine Neuauszählung der Tore – und geht damit ins Risiko wie einst Giovanni Trapattoni.

Im Weißen Haus in Washington spielt sich zur Zeit eine bühnenreife Tragödie ab, und das Theater spitzt sich Tag für Tag zu. Denn Donald Trump will nicht gehen. „Nur über meine Leiche“, hat sich der US-Präsident geschworen und weigert sich, die Schlüssel herauszurücken, er sträubt sich gegen die Amtsübergabe und verschanzt sich im Oval Office angeblich hinter Sandsäcken – nach Lage der Dinge wird ein FBI-Räumkommando das Gebäude stürmen und Trump mit Waffengewalt hinaustragen müssen.

Warum erzählen wir die Geschichte?

Weil sie verblüffend einer anderen ähnelt, die in diesem tristen Herbst nun schon seit Wochen den deutschen Fußball erschüttert. Auch Jogi Löw, unser Bundestrainer, will partout nicht weichen, sperrig stellt er sich quer. Dabei hat ihn das Volk abgewählt wie die Amerikaner ihren Präsidenten, nur viel deutlicher. Denn anlässlich repräsentativer Umfragen rümpfen cirka acht von zehn Deutschen unter den Nachwirkungen des WM-Flops 2018 und vor allem des unerträglichen 0:6 gegen die Spanier die Nase und finden, dass es Löw jetzt so langsam gut sein lassen sollte.

Fake News, kontert der Bundestrainer. Jedenfalls hat er alle Abstimmungen derart ungerührt zum einen Ohr hinein- und zum anderen wieder hinausgelassen, dass eine lästerliche Spottgosche in Bezug auf das 0:6 in Sevilla die Meldung durchs Internet jagte: „Jogi Löw erkennt die Niederlage nicht an und fordert eine Neuauszählung der Tore.“ An eine Amtsübergabe sei noch lange nicht zu denken.

Obwohl diese Geschichte zweifellos erstunken und erlogen ist, also höchstens ein billliger Scherz zum Mitlachen, bestätigt sie doch einen galoppierenden Trend: Kein Mächtiger räumt heutzutage noch freiwillig das Feld. In Sport, Show und Politik gilt zusehends die alte Devise von Giovanni Trapattoni: „Man wird mich einmal mit Fußtritten aus dem Fußball jagen müssen.“

Muss Joachim Löw am Ende in Handschellen und einer Zwangsjacke abgeführt werden? Im Moment trotzt er noch eisern der erdrückenden Ablehnung und schüttelt alle Spötter ab wie lästige Stubenfliegen. Feinsinnige Kritiker werfen dem Bundestrainer vor, dass er nicht auf den großen Schiller hört, der in der Blüte seines Wirkens gedichtet hat: „Ein guter Abgang ziert die Übung.“ Aber damals ging es nur ums Turnen.

Jetzt geht es um Fußball.

Es soll beim Deutschen Fußball-Bund zwar schon gelegentlich den einen oder anderen aufmüpfigen Löw-Hinterfrager gegeben haben, aber die Antworten gibt, wann immer es brenzlig wird, entweder Löw selbst, oder Oliver Bierhoff. Unvergessen bleibt, wie der Manager der Nationalmannschaft nach der WM-Blamage 2018 auf den Tisch drosch und verlangte: „Wir müssen intern knallhart diskutieren.“ Jogi Löw hat dazu spontan genickt, im Rahmen intensiver Schwarzwaldbegehungen danach acht Wochen lang mit sich selbst diskutiert und herausgefunden, dass er der Richtige ist für den Neuaufbau. Dieser Umbruch nimmt jetzt einen Umweg über den kompletten Zusammenbruch, also hat Bierhoff auch nach dem 0:6 gegen die Spanier sofort wieder geistesgegenwärtig gefordert: „Wir müssen knallhart analysieren.“ Erneut hat daraufhin der Jogi die vorliegenden Fakten mit dem Löw wieder schonungslos durchdebattiert – und knallhart auch diesmal weitergemacht, ohne Angst vor den Prügeln des Fußballvolks.

Ist die Angst vor dem Abschied noch größer?

Jeder Abschied ist ein kleiner Tod. Viele kennen diese furchtbare Angst, nicht nur der Bundestrainer, sondern mindestens auch drei seiner früheren Weltmeister. Erinnern Sie sich an die Gesichter von Thomas Müller, Mats Hummels und Jerome Boateng, als Löw ihnen damals jäh eröffnete, dass es zwar lange schön war mit ihnen, aber keinen Sinn mehr macht? Hermann Hummels hat erzählt, dass sein Sohn ihn an jenem düsteren Tag verzweifelt anrief: „Ich fragte: Bist du verletzt? Und er sagte: Es ist schlimmer.“

Die Angst vor dem Aus geht immer einher mit grässlichen Gefühlen. Als Lothar Matthäus nach Unstimmigkeiten mit Bundestrainer Berti Vogts anno 1994 als Kapitän ausschied, schlief er anschließend furchtbar schlecht und schrieb verwirrende Tagebücher. Aber er ließ nicht locker, denn unbedingt wollte er seine Bilanz als Rekordnationalspieler ausbauen, und unter öffentlichem Druck durfte er bei der WM 1998 sein Comeback feiern.

Keiner hört gerne auf. Hat Uli Hoeneß je als Bayernboss aufgehört? Wenn er sein Machtwort für nötig hält, haut er es jedem nach wie vor um die Ohren und kanzelt geschwind den Abwehrspieler Alaba oder dessen Berater ab, ohne den Vorstandschef Rummenigge vorher groß zu fragen. Was hatten die Leute erwartet, dass Hoeneß nach seinem Abschied nur noch den Grüßgottonkel gibt und ansonsten mit seiner Susi im Faltboot über den Tegernsee dümpelt? Alle vergessen dabei, dass er als kickender Jungspund unter dem Bayern-Patriarchen Wilhelm Neudecker aufwuchs, der noch im hohen Alter drohte: „Wann ich aufhöre? Erst wenn ich ins Grab falle. Und dann mache ich noch zwei Jahre weiter.“

Kürzer treten mag ja noch halbwegs erträglich sein, aber abtreten? „Niemals“, hat Trude Herr einst gesungen, „geht man so ganz“.

Jogi Löw geht gar nicht.

Doch, einmal hat er wohl daran gedacht, allerdings nur kurz. In der Stunde Null, nach dem 0:2 gegen Südkorea bei der WM vor zwei Jahren, versprach er trostlos: „Ich habe die Verantwortung und stehe dazu.“ Sein nächster Satz hätte dann heißen können: „Ich trete zurück.“ Aber vermutlich hat ihn sofort die Frage gebremst: Wohin?

Wann ich aufhöre? Erst wenn ich ins Grab falle. Und dann mache ich noch zwei Jahre weiter

Was erwartet einen, der einen Traumjob aufgibt? Gibt es überhaupt noch ein Leben nach dem Rücktritt, oder hat man als Abgedankter höchstens noch die Qual der Wahl, ob man die Zeit totschlägt mit einer Kreuzfahrt nach Honolulu, dem Gassiführen seines Dobermanns oder sporadischen Experten-Auftritten im Sport-1-“Doppelpass“? Soll er als Ex-Bundestrainer für den Rest seines Lebens im Begleitzirkus des Fußballs als brüllender Löw durch brennende Reifen springen? Soll er sich die alten Filme von seinen Siegen reinziehen, auf dem Sofa, bei einem Gläschen Sherry? Da hält sich der Bundestrainer, was wir womöglich fast alle tun würden, dann doch lieber an die Boxerdevise „Aufrappeln, Mund abputzen, weiter.“

Wir Flachlandtiroler haben keinen blassen Schimmer, wie sich die Beneidenswerten da oben auf ihrem Gipfel fühlen, bei ihrem Schweben in luftigen Höhen. Das da droben, das ist Glück. Und keiner will absteigen und zurück ins Basilager des tiefen Tals.

Tom Brady hat es wunderbar erzählt. Der große US-Quarterback wurde vor zwei Jahren nach seinem letzten Superbowlsieg von einem Reporter gefragt, warum er mit 41 immer noch nicht aufhört. Brady deutete auf das ekstatisch jubelnde Publikum und schrie dem anderen die Antwort ins Gesicht: „Warum? Ja, schau Dir das doch an!“ Adrenalinausstoß, pur. Wo kriegt er das sonst nochmal im Leben?

Ein Abschied ist nicht sexy, deshalb spielt Brady immer noch, und gewinnt immer noch. Und deshalb will auch Donald Trump alles, bloß nicht aufhören. Und auch Jogi Löw hat sich angewöhnt, alle Rückschläge auszusitzen. Oder geht er doch noch in sich? Unbeugsame Optimisten klammern sich mutig an ihren Traum, dass der Bundestrainer sich demnächst nochmal acht Wochen zum Grübeln in den Schwarzwald zurückzieht, dann aber mannhaft vor eine Kamera steht und sagt: Ich bin jetzt doch zur Besinnung
gekommen.

Viele würden ihm spontan applaudieren, vermutlich auch Günter Netzer. Der hat einmal aus seiner grandiosen Zeit als Ballverteiler bei Real Madrid erzählt und traurig geschildert, dass das zähe Durchhalten für ein paar der dortigen Altstars nicht gut ausging: „Am Ende hat man sie mit dem Lasso vom Platz holen müssen.“

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