Artikel von Oskar Beck

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WM in Deutschland 1974: „Block E 2, Stehplatz, Preis 15 Mark“

„Komm mit, Kerle, kriegsch a Kart` fürs Endspiel“, sagte Gotthilf Fischer am 6. Juli 1974. Tags darauf sangen uns die Fischer-Chöre zum WM-Sieg, und der Fischer-Chor-Reporter hatte den perfekten Platz: Direkt vor mir fielen die deutschen Tore – aber am schönsten fiel Bernd Hölzenbein.

Es gibt Dinge, die man sein Leben lang nicht wegwirft. Man steckt sie am Abend des Tages, an dem sie einem wichtig geworden sind, in die Zigarrenkiste mit den unsterblichen Erinnerungsstücken – und kramt sie in stillen Momenten wieder hervor.

Manchmal dauert es dreißig Jahre. Das verstaubte Souvenir, von dem ich hier und heute erzählen will, hat gelitten. Der Zahn der Zeit hat an ihm genagt, womöglich sogar eine verfressene Motte, jedenfalls ist es verknittert und kommt an den Ecken etwas abgerissen daher. „München, 15 Uhr, Block E 2, Stehplatz“, steht auf der Karte. Und das Datum.

7. Juli 1974.

Mein Stehplatz in Block E 2 war, um es vorweg zu nehmen, ein guter Platz. Er hat mich beispielsweise davor bewahrt, die erste Szene des Endspiels um die Fußballweltmeisterschaft 1974 in ihrer vollen Tragweite zu erkennen – schließlich lagen ungefähr hundertdreißig Meter zwischen mir und der Stelle, an der Uli Hoeneß gegen Johan Cruyff das Bein stehen ließ. Natürlich drang die Kunde von der Katastrophe irgendwie doch schnell bis Block E 2 durch: Der Schiedsrichter pfiff Elfmeter, Johan Neeskens schoss, der Lautsprecher gab den neuen Spielstand bekannt, und ich ließ auf meinem Stehplatz den Rüssel hängen bis hinunter zu den Füßen. Doch dann habe ich am Anstoßkreis, der nicht ganz so weit entfernt war, den Müller gesehen, der aufgrund seines mangelhaft ausgeprägten Aberglaubens freiwillig die Unglückszahl 13 auf dem Rücken trug, und mit seiner angeborenen Bierruhe hat der Bomber in die Hände geklatscht und gebrüllt, dass ich es fast bis hoch in Block E 2 hörte: „Auf geht’s, Uli – noch 89 Minuten!“

Das war die eine gute Tat des Gerd Müller an jenem historisch wertvollen Tag. Die andere, zweiundvierzig Minuten später, war sein 2:1. Danach waren wir Weltmeister – und feiern nun heute das 30-jährige Jubiläum, wenn auch etwas gedämpfter als das Wunder von Bern anno `54.

Das war eine andere Geschichte, aus einer anderen Zeit. 1974 sind schon die ersten Millionäre in kurzen Hosen auf dem Platz gestanden – keine ausgezehrten Kriegsheimkehrer mehr, die die wunde Seele eines geplätteten Volks balsamierten. Herbergers Helden hätten, um siegen zu dürfen, damals das Torgebälk noch eigenhändig auf den Platz getragen, mit Sägemehl die Linien gestreut und den Ball aufgeblasen – sie waren noch andere Helden, und ihre Prämien waren noch Kühlschränke, Waschmaschinen und Geschenkkörbe mit Fressalien.

Um es kurz zu machen: Die Holländer waren an jenem 7. Juli 1974 in München besser, sie hatten aber keinen Hölzenbein. Vermutlich war es unser Haken schlagender Hesse, der den Dichter Salman Rushdie später zu den wunderbaren Zeilen inspiriert hat: „Schwalben im Strafraum sind wie ein Taschenspielertrick, aber gute Schwalben sind große Kunst. Eine gute Schwalbe ist wie ein Lachs, der hochschnellt, sich dreht und ins Wasser zurückfällt. Eine gute Schwalbe ist wie das Sterben des Schwans.“

Die von Bernd Hölzenbein gegen die Holländer war derart perfekt, dass ich, obwohl der Spitzbube sich direkt vor meinem Block E 2 hingelegt hat, für einen Moment überlegt habe, ob es überhaupt eine Schwalbe war. Viele Jahre später, anlässlich eines DFB-Jubiläumsbanketts, stand der Schalker Olaf Thon auf der Toilette neben Hölzenbein an der Pissrinne und sagte plötzlich, mitten ins beiderseitige Rieseln hinein: „Bernd, ich glaube, man kann ihn geben.“ Aber so oder so, Hauptsache, der Elfer von Paule Breitner hinterher war drin.

Die Holländer, Hut ab, waren klasse. Doch wir hatten, wie 1954, wieder unseren Seppl, diesmal nicht als Trainer, sondern im Tor, vor ihm hat Berti den großen Cruyff in den Wahnsinn und die Selbstaufgabe getrieben, und Katsche Schwarzenbeck, der Putzer vom Kaiser, ist von Franz Beckenbauer ständig als Fels in die Brandung der holländischen Angriffswellen geworfen worden. Aber vor allem hatten wir unseren „Bomber der Nation“, der in Wahrheit der Abstauber der Nation war – seine Tore fielen stets aus dem Nichts.

Hat am 7. Juli 1974 auch nur einer von uns 80 000 im Olympiastadion den Müller ernsthaft am Ball gesehen, bevor er unmittelbar vor der Halbzeit zuschlug? Als überlebender Augenzeuge aus Block E 2 kann ich den Vorfall heute noch hautnah schildern: Bonhof geht schräg vor meinen Augen steil, drischt den Ball flach und blind nach innen, Müller stoppt ihn mit dem Rücken zum Tor, aussichtslos also, doch plötzlich stellt er seinen schwäbischen Hintern hinaus, dreht sich um die eigene Pobacke, und den Rest hatte er kurz zuvor schon auf Platte besungen: „Dann macht es bumm…“

Wie entfesselt ist sich Block E 2 in diesem Moment kollektiv in die Arme gefallen, und erschöpft von dem grausamen, Nerven zerfetzenden, die ganze zweite Halbzeit anhaltenden Anrennen der Holländer auf das Tor direkt vor unseren Augen sind wir beim Schlusspfiff auf die Knie gesunken wie unser Bomber Müller – leider hat der sich abends beim Bankett im Hilton eine dicke Zigarre angesteckt, mit dem Breitnerpaule um die Wette gepafft und seinen Rücktritt erklärt.

Ansonsten war es aber ein traumhafter Tag.

Schon wegen der Fischer-Chöre, die diesem großen Spiel im Olympiastadion den musikalischen Rahmen gegeben haben und die ich noch dreißig Jahre danach gar nicht genug loben kann – es war nämlich so, dass Gotthilf Fischer am Tag vor dem Spiel die beste Idee seines Lebens hatte. Ein Remstäler wäscht die Hand des anderen, also hat der große Chorleiter zum kleinen Lokalreporter B., der bei seiner Kreiszeitung damals noch Sonderberichterstatter mit dem Schwerpunkt Fischer-Chöre war, kurzerhand gesagt: „Komm mit, Kerle, kriegsch a Kart` fürs Endspiel.“

Und dann auch noch in der Kurve, in der das Tor vom Breitnerpaule und von Bomber Müller gefallen ist, und Hölzenbein über das ausgestreckte Bein von Wim Janssen. Spätestens zum Fünfzigjährigen hole ich die verstaubte Eintrittskarte wieder heraus, und die Enkel werden vor Ehrfurcht Bauklötze staunen: „Du warst dabei, Opa?“

Und wie. Sogar die 15 Mark hat mir Gotthilf erlassen.

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