Olli Kahn ist abgetaucht, er therapiert sich im Urlaub auf Sardinien. Wie kommt ein Fehlerloser mit einem Fehler klar – und dann auch noch mit so einem solchen wie am Sonntag im WM-Finale in Yokohama?
Als Oliver Kahn nach dem WM-Endspiel auf dem Boden hockte und haltsuchend mit dem verlängerten Rücken am Torpfosten lehnte, fertig mit sich, Gott und der Welt, war es von Vorteil, dass ihm keiner einen Revolver reichte – er hätte sich dankend den Fangschuss gegeben.
Was in ihm vorging?
Um davon eine ungefähre Ahnung zu haben, muss man lediglich wissen, was Vater Rolf einmal aus der Kindheit seines Olli berichtet hat: „Wenn der Bub beim Mensch-ärgere-dich-nicht verloren hat, sind mir die Figuren um die Ohren geflogen.“
So ähnlich muss es gewesen sein, nur viel schrecklicher, als der beste Torwart der Welt letzten Sonntag in Yokohama das Endspiel der Weltmeisterschaft verloren hat. Statt der Olli-ärgere-dich-nicht-Figuren hat er diesmal seine Handschuhe weggepfeffert, und im Übrigen wäre er auf der Stelle verrückt geworden, wenn er es, weil es die unheilbare Berufskrankheit aller Torleute ist, nicht schon vorher gewesen wäre. Ein Torwart muss verrückt sein, er geht auf dem schmalen Grat zwischen Held und Depp sonst zugrunde.
Schon früh in den 1990er Jahren, er war Anfang 20, hat mir Kahn sein Berufsbild erklärt. Als verheißungsvolles Talent stand er damals im Kasten des Karlsruher SC und hatte noch nicht viel erlebt, wusste aber bereits bestens, welche berufliche Herausforderung er sich da aufgehalst hatte: „Als Torwart bist du Einzelkämpfer“, sagte er, „ein Feldspieler kann seine Fehler auswetzen, der Torwart nicht. Das Leben im Tor macht einsam.“ Vor allem so ein Fehler.
Es war bei der ganzen WM sein einziger.
Was hatte er für ein tolles, unübertreffliches, überwältigendes Turnier gespielt, Freund und Feind hatte ihn gefeiert und gefürchtet als „King Kahn“ oder „Titan“. Ohne den Teufelskerl im Tor wäre Rudi Völlers DFB-Team nicht im Finale gelandet, sondern schnell nach der Vorrunde auf Schleichwegen heimgeflogen, Economy, Holzklasse, und auf dem Frankfurter Flughafen vermutlich mit einem Wurfhagel aus Südfrüchten und faulen Tomaten empfangen worden. Aber aus drei Gründen landete die Truppe stattdessen am Ende im Finale, nämlich „mit Kampf, Krampf und Kahn“, wie der TV-Reporter Marcel Reif wahrheitsgemäß vermeldete. Der beste Torwart der Welt wurde vor dem Anpfiff auch noch zum besten Spieler der WM gewählt. Und dann das: Er verliert dieses finale Spiel, das alles entscheidende, das wichtigste seiner Karriere.
„Es wird mich ein paar Tage quälen“, sagt er in der finsteren Nacht nach dem Malheur.
Ein paar Tage? Sein Leben lang wird er ihn verfolgen, denn die Welt ist gemein. „Die einzigen, die sich an dich erinnern, wenn du Zweiter wirst, sind deine Frau und dein Hund“, hat der Brite Damon Hill gesagt, als er in der Formel 1 an Michael Schumacher wieder einmal nicht vorbeikam. Wobei Kahn jetzt nicht mit Frau und Hund, sondern mit Frau und Kind versucht, die Gespenster loszuwerden. Nach Sardinien ist er angeblich geflüchtet, in den Urlaub, oder in die Therapie.
Vermutlich steht er in diesem Moment im Hotelzimmer vor dem Spiegel und beschimpft sich selbst, oder er beißt sich in die Backe, wie er es in der Bundesliga gelegentlich mit Gegenspielern macht, mit bis zum Anschlag vorgeschobenem Kinn und einer Fratze der Selbstverachtung. Denn nur als Fehlerloser und Nummer eins ist sich einer wie Kahn gut genug, so war es schon in seinen Anfangsjahren beim KSC, als ihm die Rivalen Famulla und Wimmer den Platz im Tor streitig machten – der arme Famulla, erinnert sich Rudi Wimmer, habe sich im Hotel sicherheitshalber nie mit Kahn auf ein Zimmer gelegt, „vor Angst, dass ihm der nachts das Kopfkissen aufs Gesicht drückt.“
Diese Angst muss Ollis Frau jetzt nicht haben, dafür aber anderweitig auf alles gefasst sein. Schlägt er im Schlaf um sich? Klatscht er Rivaldos Schuss auch in seinen Albträumen nochmal ab? Führt er zermürbende Selbstgespräche? Trommelt er mit den Fäusten gegen die Nachttischschublade? Wie verarbeitet Kahn diesen Tiefpunkt seiner Karriere, von dem er ahnt, dass es keinen tieferen geben wird? Wie geht er mit dem Mitleid um und dem Wissen, den Mythos der Unbezwingbarkeit verspielt zu haben? Als er da unten im Gras hockte, bezwungen, besiegt und innerlich beerdigt, sagte der Sat-1-Reporter Werner Hansch: „Mir kommt er in diesem Moment näher. Er ist wieder unter uns – als Mensch.“
Für Kahn ist das kein Trost. Der Außerirdische gegen den Rest der Welt, man kann sich als Torwart an solche Schlagzeilen gewöhnen. „Der Steingesichtige ist ein Gigant“, hatte ihn ein Blatt aus Dallas bestaunt, nachdem der US-Jungstar Landon Donovan frei vor Kahn wie das Kaninchen vor der Schlange erstarrt war – die Szene deckte sich mit der ins echte Leben übertragenen Blaupause jenes TV-Werbespots, in dem ein Elfmeterschütze, als er Kahn vor sich sieht, mitten im Anlauf umdreht und flüchtet. So wird man als Torwart irgendwann zum Ritter mit der stählernen Rüstung, an dem alles abprallt, Jahr für Jahr ist Kahn diesem Bildnis immer gerechter geworden, bis er letzte Woche vollends über allem schwebte, „Bild“ machte es kurz: „Die Faust Gottes.“
In der Etage über Olli wohnte höchstens noch der Allmächtige – aber dem wurde der Zauber dann offensichtlich zu bunt, und er hat die himmlische Hierarchie mittels der Schrecksekunde von Yokohama wieder zurechtgerückt.
Wie findet der gefallene Gigant jetzt auf Sardinien wieder zum inneren Frieden? Keiner weiß es, aber es fühlt sich zumindest beruhigend an, wenn man hört, dass er zur Entspannung angeblich gerne Vivaldi und Tschaikowsky hört und sich in Notfällen ergänzend noch auf das Buch „Mentale Stärke“ von James E. Loehr stützt. Es spricht also vieles dafür, dass Kahn demnächst wieder in die Handschuhe spuckt und die größten Kanoniere der Welt sich langsam schon wieder überlegen sollten, wie sie am besten vor ihm in Deckung gehen.
Auch der Bundeskanzler hat sich mittlerweile eingeschaltet und die Rückkehr des Bundestorwarts zur alten Stärke sozusagen zur Chefsache erklärt. „Olli Kahn ist nach diesem Fehler nicht kleiner, das ist doch Unsinn“, hat Gerhard Schröder die angeschlagene Nation beruhigt, und flankierend haben wir einen TV-Propheten auf Sat 1 sagen hören: „Ein Kahn kommt zurück, stärker denn je.“
Noch stärker? Gott steh ihm bei.